>>Die moderne Forschung hat sich mit ihrem „hyperkritischen Rationalismus“[1] der Hagiographie gegenüber lange Zeit schwergetan. Oft hat sie aus der Viten- und Mirakelliteratur nur das historische Material herausgebrochen und dabei deren Genus verkannt. Hagiographisch wichtige Passagen, etwa die Visionen und Wunder, sind in den Ausgaben der >Monumenta Germaniae Historica< zuweilen einfach weggelassen.[2] In Wirklichkeit spiegelt diese Literatur ein bestimmtes Weltbild, innerhalb dessen sie eine konsequente Logik verfolgt. Man kann die Viten darum weder als Aberglauben abtun noch als Poesie verklären. Anstoß erregten insbesondere die Wunder: Das leichtgläubige und wundersüchtige Mittelalter! Heute fällt das Urteil vorsichtiger aus. Eine mentalitätsgeschichtliche Rekonstruktion der zeitgenössischen Vorstellungen und des dazugehörigen Weltbildes machen vieles ‚verständlich‘, in gewissem Maße auch die Wunder. „Es geht nicht an, die tausendfache Überlieferung von Wundern, unter denen Heilungsmirakel vorherrschen, ausschließlich damit zu erklären, daß hier entweder Legendenmotive übertragen oder wirkliche Vorkommnisse umstilisiert … wurden … Wir können nicht von vorherein ausschließen, daß im Umkreis der Heiligen sich Ereignisse abspielten, die über den Rahmen des üblichen Geschehens und vielleicht auch dessen, was der ‚aufgeklärte‘ Mensch heute im allgemeinen für möglich hält, hinausgingen und eben den Ruf der Heiligkeit und Auserwähltheit begründet haben.“[3]<<