„Das, was in der Welt geschieht, wird von verschiedenen Leuten auch auf verschiedene Art angesehen: daß, wenn viele eine Beschreibung von einer Geschichte machen sollten, in jeder etwas Besonderes würde angetroffen werden, wenn sie sich gleich insgesamt die Sache, soviel an ihnen gelegen, richtig vorgestellt hätten. Die Ursache dieser Verschiedenheit ist teils in dem Ort und in der Stellung unseres Leibes, die bei jedem verschieden ist, teils in der verschiedenen Verbindung, die wir mit den Sachen haben, teils in unserer vorhergehenden Art zu gedenken, zu suchen, vermöge welcher dieser auf das, der andere auf jenes Achtung zu geben sich angewöhnt hat. Man glaubt zwar gemeiniglich, daß jede Sache nur eine richtige Vorstellung machen könnte, und wenn daher in den Erzählungen sich einiger Unterschied befinde, so müsse die eine ganz recht und die andere ganz unrecht haben. Allein diese Regel ist weder andern gemeinen Wahrheiten noch einer genaueren Erkenntnis unserer Seele gemäß. Wir wollen jetzo mit einem gemeinen Exempel erweisen, wie verschiedene eine einzige Sache sich auf mancherlei Art vorstellen können. Gesetzt es befinden sich bei einer vorfallenden Schlacht drei Zuschauer, davon der eine auf einem Berge zur Seite des rechten Flügels der einen Armee, der andere auf einer Höhe zur Seiten des linken Flügels, der dritte hinter derselben Armee der Schlacht zusieht. Wenn diese drei ein genaues Verzeichnis von dem, was sich bei der Schlacht zugetragen, machen sollten, so wird allen Fleißes ungeachtet keines Erzählung mit den übrigen ganz genau übereinkommen. […] Ebenso ist es mit allen Geschichten beschaffen; eine Rebellion wird anders von einem getreuen Untertanen, anders von einem Rebellen, anders von einem Ausländer, anders von einem Hofmann, anders von einem Bürger oder Bauern angesehen, wenn auch gleich jeder nichts, als was der Wahrheit gemäß ist, davon wissen sollte. Es ist zwar gewiß, daß alle wahren Erzählungen von einer Geschichte in gewissen Stücken derselben übereinkommen müssen, weil, wenn wir uns gleich gewissermaßen in verschiedenen Umständen befinden, und also auch gewisse Stücke der Geschichte nicht auf einerlei Art ansehen, wir dennoch überhaupt in den Regeln der menschlichen Erkenntnis miteinander übereinkommen. Allein wir wollen dieses behaupten, daß, wenn verschiedene Personen, auch nach ihrer richtigen Erkenntnis, eine Geschichte erzählen, in ihren wahren Erzählungen sich dennoch ein Unterschied befinden könne.“
[Johann Martin Chladenius: Von Auslegung Historischer Nachrichten und Bücher, in: Seminar: Philosophische Hermeneutik, hg. v. Hans-Georg Gadamer u. Georg Boehm, Frankfurt/M. 1976]