Schlagwort-Archiv: Vergangenheit

„ich bin, der ich war“

„Wer aber altert, dessen Kredit erschöpft sich. Dessen Horizont rückt ihm an den Leib, dessen Morgen und Übermorgen hat keine Kraft und keine Gewißheit. Er ist nur, der er ist. Das Kommende ist nicht mehr um ihn und darum auch nicht in ihm. Auf ein Werden kann er sich nicht berufen. Er zeigt der Welt ein nacktes Sein. Doch kann er gleichwohl bestehen, wenn in diesem Sein ausgewogen ein Gewesen ruht.
Ach wissen Sie, sagt der Alternde, dessen zukunftsloses Sein ein sozial nicht dementiertes Gewesensein enthält – ach wissen Sie, da sehen Sie vielleicht nur den kleinen Buchhalter, den mittelmäßigen Maler, den mühselig die Stiegen hinaufkeuchenden Asthmatiker. Sie sehen den, der ich bin, nicht den, der ich war. Aber auch der ich war, macht mein Ich noch aus, und da kann ich Ihnen auf Ehre versichern, daß mein Mathematiklehrer große Hoffnungen in mich setzte, daß meine erste Ausstellung brillante Kritiken fand, daß ich ein guter Skifahrer war. Nehmen Sie dies doch bitte hinein in das Bild, das Sie sich von mir machen. Billigen Sie mir die Dimension meiner Vergangenheit zu, ich wäre sonst ganz unvollständig.“

[Jean Améry, Wieviel Heimat braucht der Mensch in ders. „Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten“, Stuttgart, 1977, 7. Auflage, 2012, S. 108/109]

»Gegenwart der Vergangenheit«

„Dieser Hang zur Geschichtsliteratur ist als das mehr oder weniger eindeutige Zeichen der großen Besonderheit des 20. Jahrhunderts zu erkennen: Der Mensch versteht sich nicht mehr als ein freies, autonomes Wesen, unabhängig von der Welt, die er beeinflußt, ohne sie zu determinieren. Er wird sich seiner selbst innerhalb der Geschichte bewußt, er fühlt sich eng verbunden mit der Verkettung der Zeiten und kann sich nicht mehr losgelöst von der Kontinuität früherer Zeitalter begreifen. Er ist neugierig auf die Geschichte wie auf eine Forsetzung seiner selbst, eines Teiles seines Wesens. Er spürt mehr oder weniger deutlich, daß sie ihm nicht gleichgültig sein kann. Nie zuvor im Ablauf der Zeiten gab es in der Menschheit ein entsprechendes Gefühl. Jede Generation, oder jede Folge von Generationen hatte es im Gegenteil eilig, die Besonderheiten der vorangegangenen Zeitalter zu vergessen.
Heute aber bezieht sich jede unserer Überlegungen, unserer Entscheidungen mehr oder weniger bewußt auf die Geschichte. Kein Gewohnheitsmerkmal unterstreicht diese Tatsache klarer und einfacher als die Vorliebe für alte Möbel, eine Vorliebe, die sich parallel zur Verbreitung der populärwissenschaftlichen Geschichtsbücher entwickelt hat. In welcher Epoche, außer vielleicht im eklektizistischen Rom Hadrians, hat man denn gemeinhin Antiquitäten gesammelt, um in täglicher Vertrautheit damit zu leben? Trotz der Anstrengungen der modernen Innenarchitekten gelingt es den neuen Stilrichtungen nicht, aus den häuslichen Einrichtungen das Wohnhimmer im Louis-XVI-Stil und das Directoire-Eßzimmer zu verdrängen. Es handelt sich nicht um eine vroübergehende Mode, sondern um eine tiefgreifende Veränderung des Geschmacks: die Vergangenheit ist an die Gegenwart herangerückt, sie überdauert im alltäglichen Dekor des Lebens.“

[Philippe Ariès, Zeit und Geschichte, Frankfurt/Main, 1988, S. 27/28]

damals? das Recht der öffentlichen Meinung

„Kurz, ein Fleck, wie es deren sonst so viele in Deutschland gab, mit all den Mängeln und Tugenden, all der Originalität und Beschränktheit, wie sie nur in solchen Zuständen gedeihen. Unter höchst einfachen und häufig unzulänglichen Gesetzen waren die Begriffe der Einwohner von Recht und Unrecht einigermaßen in Verwirrung geraten, oder vielmehr, es hatte sich neben dem gesetzlichen ein zweites Recht gebildet, ein Recht der öffentlichen Meinung, der Gewohnheit und der durch Vernachlässigung entstandenen Verjährung. Die Gutsbesitzer, denen die niedere Gerichtsbarkeit zustand, straften und belohnten nach ihrer in den meisten Fällen redlichen Einsicht; der Untergebene tat, was ihm ausführbar und mit einem etwas weiten Gewissen verträglich erschien, und nur dem Verlierenden fiel es zuweilen ein, in alten staubichten Urkunden nachzuschlagen.

Es ist schwer, jene Zeit unparteiisch ins Auge zu fassen; sie ist seit ihrem Verschwinden entweder hochmütig getadelt oder albern gelobt worden, da den, der sie erlebte, zuviel teure Erinnerungen blenden und der Spätgeborene sie nicht begreift.“

[Annette von Droste-Hülshoff, Die Judenbuche in „Werke in einem Band, Die Bibliothek deutscher Klassiker Band 35“, Wien, 1970, S. 882/883]

 

irrlichterne Vergangenheit

„…ob wir wollen oder nicht, wir können nicht von der Vergangenheit – mit allen ihren Irrtümern – loskommen. Sie lebt in übernommenen Begriffen weiter, in Problemfassungen, in schulmäßiger Lehre, im alltäglichen Leben, in der Sprache und in Institutionen. Es gibt keine Generatio spontanea der Begriffe, sie sind, durch ihre Ahnen sozusagen, determiniert. Das Gewesene ist viel gefährlicher – oder eigentlich nur dann gefährlich – wenn die Bindung mit ihm unbewußt und unbekannt bleibt.“

[Ludwik Fleck in „Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv“, Frankfurt/M. 1980, S. 31]

Der Engel der Geschichte

„Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff , sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Munds steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“

[Walter Benjamin in „Über den Begriff der Geschichte“, 1940]

 

Individualität und Dauer

„Man frage sich ehrlich, ob die Schwalbe des heurigen Frühlings eine ganz und gar andere, als die des ersten sei, und ob wirklich zwischen beiden das Wunder der Schöpfung aus Nichts sich Millionen Mal erneuert habe, um eben so oft absoluter Vernichtung in die Hände zu arbeiten.- Ich weiß wohl, daß, wenn ich Einen ernsthaft versicherte, die Katze, welche eben jetzt auf dem Hofe spielt, sei noch die selbe, welche dort vor dreihundert Jahren die nämlichen Sprünge und Schliche gemacht hat, er mich für toll halten würde; aber ich weiß auch, daß es sehr viel toller ist, zu glauben, die heutige Katze sei durch und durch und von Grund aus eine ganz andere, als jene vor dreihundert Jahren.“

[Arthur Schopenhauer in „Ueber den Tod und sein Verhältniß zur Unzerstörbarkeit unsers Wesens an sich“ in „Die Welt als Wille und Vorstellung“, 3.Auflage von 1859]

Die Toten sind stumm

„Nun aber wird Geschichte bekanntlich nur von Überlebenden geschrieben. Die Toten sind stumm. Und für den, der zuletzt übrig bleibt, ist eben alles, was vor ihm dagewesen ist, immer sinnvoll gewesen, insofern er es auf seine Existenzform bezieht und beziehen muß, d.h. sich selbst und sein Sinnsystem eben nur aus der gesamten Vorgeschichte seiner Art begreifen kann. Immer schreiben Sieger die Geschichte von Besiegten, Lebendgebliebene die von Toten. Somit ist die Geschichte die egozentrische Selbstbezüglichkeit des Geistes, der aus Geschichte herausgeboren, zuletzt Geschichte als Vorstufe seiner eigenen Gegenwart begreift.“

[Theodor Lessing in „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“, München 1983, Originalausgabe 1919, S. 63]