Schlagwort-Archiv: Tod

Leiden und Sein

„Es gibt im Leiden eine Abwesenheit jeder Zuflucht. Sie ist der Sachverhalt, direkt dem Sein ausgesetzt zu sein. Sie ist gebildet aus der Unmöglichkeit zu entfliehen und auszuweichen. Die ganze Schärfe des Leidens liegt in dieser Unmöglichkeit des Ausweichens. Sie ist die Tatsache, in das Leben und in das Sein hinein in die Enge getrieben zu sein. In diesem Sinne ist das Leiden die Unmöglichkeit des Nichts.

Doch zur gleichen Zeit wie den Appell an ein unmögliches Nichts gibt es im Leiden die Nähe des Todes. Es gibt nicht nur das Gefühl und das Wissen, daß das Leiden mit dem Tode enden kann. Der Schmerz in sich selbst bringt so etwas wie eine äußerste Steigerung mit sich, wie wenn etwas noch Zerreißenderes als das Leiden vor sich gehen würde, wie wenn es trotz des Fehlens jeglicher Rückzugsdimension, welches das Leiden ausmacht, noch ein Terrain gäbe, das frei ist für ein Ereignis, wie wenn man sich noch um etwas beunruhigen müßte, wie wenn wir am Vorabend eines Ereignisses stünden, das jenseits dessen liegt, was sich im Leiden bis zum Ende enthüllt hat. Die Struktur des Schmerzes, die gerade darin besteht, an den Schmerz gefesselt zu sein, verlängert sich noch, aber bis zu einem Unbekannten, das in Ausdrücke des Lichts zu übersetzen unmöglich ist, das heißt, das widerspenstig ist gegen die Intimität des Sich mit dem Ich, zu der alle unsere Erfahrungen zurück kehren.“

[Emmanuel Lévinas, Die Zeit und der Andere, Hamburg, 1995, S. 42/43]

gegen fruchtlosen Fatalismus

„Die Sonne geht auf? Und trotzdem wird sie untergehen. Die Nacht kündigt Verzweiflung an? Trotzdem wird auch sie vorübergehen und nie mehr wiederkommen. Wichtig ist, nicht aufzugeben, sich keinem fruchtlosen Fatalismus zu überlassen. König Salomo, der große Pessimist, hat es treffend gesagt: ‚Die Tage kommen, die Tage gehen. Eine Generation geht, eine andere kommt und wird wieder durch die nächste abgelöst. Nur die Erde besteht weiter, die Sonne geht auf, die Sonne geht unter…, was war, wird sein…‘ Soll man folglich die Zeit anhalten? Und den Lauf der Sonne? Manchmal muß man es versuchen. Selbst wenn es vergeblich ist? Auch dann. Manchmal ist es unsere Aufgabe, etwas zu versuchen, gerade weil es vergeblich ist. Weil am Ende des Weges der Tod auf uns wartet, müssen wir aus vollen Zügen leben. Weil ein Geschehen uns sinnlos erscheint, müssen wir ihm einen Sinn geben. Weil wir unsere Zukunft nicht in den Händen halten, müssen wir sie schaffen.“

Elie Wiesel, „Alle Flüsse fließen ins Meer. Autobiographie“, Hamburg, 1995, S. 30/31

t.o.d

„Obwohl unzugänglich für das Bewußtsein (oder gewissermaßen nur sprachlich zugänglich) unterliegen auch Todesvorstellungen sozialer Formung. Der historisch neuartige Individualismus zeichnet sich seit dem 18. Jahrhundert auch in den gesellschaftstypischen Einstellungen zum Tode ab. Der Tod wird privatisiert, was dann wieder erfordert, Tod im öffentlichen Interesse, besonders Kriegstod, mit einer besonderen Sinngebung zu versehen. Zugleich wird das Individuum aber auch – allein schon durch die Konspiration des Schweigens der Ärzte – von seinem Tod abgelenkt; und selbst wenn dies nicht gelingt, wird ihm zugemutet, darüber nicht zu kommunizieren, entsprechende Versuche werden als peinlich empfunden und finden wenig Resonanz.

Die Theorie der bewußtseinsbasierten Autopoiesis reformuliert nur diese bekannten Sachverhalte. Sie postuliert ein eigentümliches Umkehrverhältnis zwischen Individualisierung und Todessemantik: Je individueller ein psychisches System sich begreift und die eigene Autopoiesis reflektiert, desto weniger kann es sich ein Weiterleben nach dem Tod vorstellen und desto unvorstellbarer wird ineins damit der letzte Moment des Bewußtseins. Auch Kommunikation hilft dann nicht über das Unvorstellbare hinweg.“

[Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/Main, 1987, 15. Auflage von 2012, S. 375/376]

Tragik des Seins

„Die Furcht vor dem Nichts ist nur das Maß für unser Engagement im Sein. Nicht aufgrund ihrer Endlichkeit, sondern durch sich selber birgt das Sein eine Tragik, die der Tod nicht zu lösen vermag.“

[Emmanuel Lévinas, „Vom Sein zum Seienden“ , 1947]

 

ein guter Satz für alle vermeintlichen Todessehnsüchtler…

Heute: das ist dein Leben

„Alles, was deine Hand zu tun findet, das tue in deiner Kraft! Denn es gibt weder Tun noch Berechnung, noch Kenntnis, noch Weisheit im Scheol, in den du gehst.

Ferner sah ich unter der Sonne, dass nicht die Schnellen den Lauf gewinnen und nicht die Helden den Krieg und auch nicht die Weisen das Brot und auch nicht die Verständigen den Reichtum und auch nicht die Kenntnisreichen die Beliebtheit, sondern Zeit und Geschick trifft sie alle.

Denn auch kennt der Mensch seine Zeit nicht.“

[aus dem Alten Testament, Buch „Kohelet“, Kapitel 9, Jahrhunderte v. Chr.]

 

 

„6.4311    Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht.
Wenn man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht, dann lebt der ewig, der in der Gegenwart lebt.
Unser Leben ist ebenso endlos, wie unser Gesichtsfeld grenzenlos ist.
                       
6.4312    Die zeitliche Unsterblichkeit der Seele des Menschen, das heißt also ihr ewiges Fortleben auch nach dem Tode, ist nicht nur auf keine Weise verbürgt, sondern vor allem leistet diese Annahme gar nicht das, was man immer mit ihr erreichen wollte. Wird denn dadurch ein Rätsel gelöst, dass ich ewig fortlebe? Ist denn dieses ewige Leben dann nicht ebenso rätselhaft wie das gegenwärtige? Die Lösung des Rätsels des Lebens in Raum und Zeit liegt außerhalb von Raum und Zeit.(Nicht Probleme der Naturwissenschaft sind ja zu lösen.)“

[Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 1918]

Tod, wo ist dein Stachel?

„Du wirst von der Sünde loskommen.
Du wirst von der Trübsal befreit
und von der Wut der Theologen.
Du wirst zum Licht gelangen.
Du wirst Gott sehen.
Du wirst den Sohn Gottes schauen.
Du wirst die wunderbaren Geheimnisse
erfahren, die du in diesem Leben
nicht begreifen konntest, nämlich warum
wir so, wie wir sind, geschaffen
wurden und wie die beiden Naturen
[die göttliche und die menschliche]
in Christus miteinander verbunden sind.“

[Philipp Melanchton im April 1560; kurz vor seinem Tod]