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Es ist falsch, wenn einer sagt: Ich denke

„Ich will ein Poet sein, und ich arbeite an mir, um aus mir einen Seher zu machen. Sie werden das natürlich nicht begreifen, und wie sollte ich es Ihnen auch erklären. Es geht darum, durch ein Entgrenzen aller Sinne am Ende im Unbekannten anzukommen. Die Leiden sind gewaltig, aber man muß stark sein, als Poet geboren, und ich habe mich als Poet erkannt. Das ist durchaus nicht meine Schuld. Es ist falsch, wenn einer sagt: Ich denke. Man sollte sagen: Es denkt mich. (Entschuldigen Sie das Wortspiel.)
Ich ist ein anderer. Schlimm genug für das Holz, das als Geige erwacht, und Spott allen, die sich selber nicht kennen und doch über etwas klügeln, wovon sie nicht das geringste wissen.“

Arthur Rimbaud in einem Brief an Herrn Izambard im Mai 1871

[übersetzt von Dieter Tauchmann, zitiert nach Arthur Rimbaud, Gedichte, französisch und deutsch, Leipzig, 1989, S. 152/153]

Umtausch nicht gestattet

„Die Men­schen ver­ler­nen das Schen­ken. Der Ver­let­zung des Tausch­prin­zips haf­tet etwas Wi­der­sin­ni­ges und Un­glaub­wür­di­ges an; da und dort mus­tern selbst Kin­der miß­trau­isch den Geber, als wäre das Ge­schenk nur ein Trick, um ihnen Bürs­ten oder Seife zu ver­kau­fen. Dafür übt man cha­ri­ty, ver­wal­te­te Wohl­tä­tig­keit, die sicht­ba­re Wund­stel­len der Ge­sell­schaft plan­mä­ßig zu­klebt. In ihrem or­ga­ni­sier­ten Be­trieb hat die mensch­li­che Re­gung schon kei­nen Raum mehr, ja die Spen­de ist mit De­mü­ti­gung durch Ein­tei­len, ge­rech­tes Ab­wä­gen, kurz durch die Be­hand­lung des Be­schenk­ten als Ob­jekt not­wen­dig ver­bun­den. Noch das pri­va­te Schen­ken ist auf eine so­zia­le Funk­ti­on her­un­ter­ge­kom­men, die man mit wi­der­wil­li­ger Ver­nunft, unter sorg­fäl­ti­ger In­ne­hal­tung des aus­ge­setz­ten Bud­gets, skep­ti­scher Ab­schät­zung des an­de­ren und mit mög­lichst ge­rin­ger An­stren­gung aus­führt. Wirk­li­ches Schen­ken hatte sein Glück in der Ima­gi­na­ti­on des Glücks des Be­schenk­ten. Es heißt wäh­len, Zeit auf­wen­den, aus sei­nem Weg gehen, den an­de­ren als Sub­jekt den­ken: das Ge­gen­teil von Ver­geß­lich­keit. Eben dazu ist kaum einer mehr fähig. Güns­ti­gen­falls schen­ken sie, was sie sich sel­ber wünsch­ten, nur ein paar Nu­an­cen schlech­ter. Der Ver­fall des Schen­kens spie­gelt sich in der pein­li­chen Er­fin­dung der Ge­schenk­ar­ti­kel, die be­reits dar­auf an­ge­legt sind, daß man nicht weiß, was man schen­ken soll, weil man es ei­gent­lich gar nicht will. Diese Waren sind be­zie­hungs­los wie ihre Käu­fer. Sie waren La­den­hü­ter schon am ers­ten Tag.

Ähn­lich der Vor­be­halt des Um­tauschs, der dem Be­schenk­ten be­deu­tet: hier hast du dei­nen Kram, fang damit an, was du willst, wenn dir’s nicht paßt, ist es mir ei­ner­lei, nimm dir etwas an­de­res dafür. Dabei stellt ge­gen­über der Ver­le­gen­heit der üb­li­chen Ge­schen­ke ihre reine Fun­gi­bi­li­tät auch noch das Mensch­li­che­re dar, weil sie dem Be­schenk­ten we­nigs­tens er­laubt, sich sel­ber etwas zu schen­ken, worin frei­lich zu­gleich der ab­so­lu­te Wi­der­spruch zum Schen­ken ge­le­gen ist.

Ge­gen­über der grö­ße­ren Fülle von Gü­tern, die selbst dem Armen er­reich­bar sind, könn­te der Ver­fall des Schen­kens gleich­gül­tig, die Be­trach­tung dar­über sen­ti­men­tal schei­nen. Selbst wenn es je­doch im Über­fluß über­flüs­sig wäre – und das ist Lüge, pri­vat so gut wie ge­sell­schaft­lich, denn es gibt kei­nen heute, für den Phan­ta­sie nicht genau das fin­den könn­te, was ihn durch und durch be­glückt –, so blie­ben des Schen­kens jene be­dürf­tig, die nicht mehr schen­ken. Ihnen ver­küm­mern jene un­er­setz­li­chen Fä­hig­kei­ten, die nicht in der Iso­lier­zel­le der rei­nen In­ner­lich­keit, son­dern nur in Füh­lung mit der Wärme der Dinge ge­dei­hen kön­nen. Kälte er­greift alles, was sie tun, das freund­li­che Wort, das un­ge­spro­chen, die Rück­sicht, die un­ge­übt bleibt. Sol­che Kälte schlägt end­lich zu­rück auf jene, von denen sie aus­geht. Alle nicht ent­stell­te Be­zie­hung, ja viel­leicht das Ver­söh­nen­de am or­ga­ni­schen Leben sel­ber, ist ein Schen­ken. Wer dazu durch die Logik der Kon­se­quenz un­fä­hig wird, macht sich zum Ding und er­friert.“

[Theo­dor W. Ador­no in „Mi­ni­ma Mo­ra­lia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben“ – 21. Apho­ris­mus, Frankfurt a. Main, 2001, S.64-66]

Grenzerhaltung = Systemerhaltung

„Systeme sind nicht nur gelegentlich und nicht nur adaptiv, sie sind strukturell an ihrer Umwelt orientiert und könnten ohne Umwelt nicht bestehen. Sie konstituieren und sie erhalten sich durch Erzeugung und Erhaltung einer Differenz zur Umwelt, und sie benutzen ihre Grenzen zur Regulierung dieser Differenz. Ohne Differenz zur Umwelt gäbe es nicht einmal Selbstreferenz, denn Differenz ist Funktionsprämisse selbstreferentieller Operationen. In diesem Sinne ist Grenzerhaltung (boundary maintenance) Systemerhaltung.

Grenzen markieren dabei keinen Abbruch von Zusammenhängen. Man kann auch nicht generell behaupten, daß die internen Interdependenzen höher sind als System/Umwelt-Interdependenzen. Aber der Grenzbegriff besagt, daß grenzüberschreitende Prozesse (zum Beispiel des Energie- oder Informationsaustausches) beim Überschreiten der Grenze unter andere Bedingungen der Fortsetzung (zum Beispiel andere Bedingungen der Verwertbarkeit oder andere Bedingungen des Konsenses) gestellt werden. Dies bedeutet zugleich, daß die Kontingenzen des Prozeßverlaufs, die Offenheiten für andere Möglichkeiten, variieren, je nachdem, ob er für das System im System oder in seiner Umwelt abläuft. Nur soweit dies der Fall ist, bestehen Grenzen, bestehen Systeme.

[Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/Main, 1987, 15. Auflage von 2012, S. 35/36]

reality is what you make of it

„»Die Welt ist meine Vorstellung:« – dies ist die Wahrheit, welche in Beziehung auf jedes lebende und erkennende Wesen gilt; wiewohl der Mensch allein sie in das reflektirte abstrakte Bewußtseyn bringen kann: und thut er dies wirklich; so ist die philosophische Besonnenheit bei ihm eingetreten. Es wird ihm dann deutlich und gewiß, daß er keine Sonne kennt und keine Erde; sondern immer nur ein Auge, das eine Sonne sieht, eine Hand, die eine Erde fühlt; daß die Welt, welche ihn umgiebt, nur als Vorstellung daist, d.h. durchweg nur in Beziehung auf ein Anderes, das Vorstellende, welches er selbst ist.[…]

Keine Wahrheit ist also gewisser, von allen andern unabhängiger und eines Beweises weniger bedürftig, als diese, daß Alles, was für die Erkenntniß daist, also die ganze Welt, nur Objekt in Beziehung auf das Subjekt ist, Anschauung des Anschauenden, mit Einem Wort, Vorstellung. Natürlich gilt Dieses, wie von der Gegenwart, so auch von jeder Vergangenheit und jeder Zukunft, vom Fernsten, wie vom Nahen: denn es gilt von Zeit und Raum selbst, in welchen allein sich dieses alles unterscheidet. Alles, was irgend zur Welt gehört und gehören kann, ist unausweichbar mit diesem Bedingtseyn durch das Subjekt behaftet, und ist nur für das Subjekt da. Die Welt ist Vorstellung.“

[Arthur Schopenhauer in „Die Welt als Wille und Vorstellung“, Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden. Band 1, Zürich 1977, via zeno.org]

wie wir die Wirklichkeit gliedern

„Weitaus die meisten Dinge und Vorgänge interessieren uns nur durch das, was sie mit anderen gemein haben und daher achten wir auch nur auf dieses Gemeinsame, obwohl tatsächlich jeder Teil der Wirklichkeit von jedem anderen individuell verschieden ist und nichts in der Welt sich genau wiederholt. …

Andererseits aber erschöpft die generalisierende Auffassung das, was uns an unserer Umgebung interessiert und was wir daher auch von ihr kennen, keineswegs. Dieser oder jener Gegenstand kommt vielmehr gerade durch das für uns in Betracht, was ihm allein  eigentümlich  ist und was ihn von allen anderen Objekten unterscheidet. Unser Interesse und unsere Kenntnis bezieht sich dann also gerade auf seine  Individualität,  auf das, was ihn unersetzlich macht und wenn wir auch wissen, daß er sich ebenso wie andere Objekte als Exemplar eines Gattungsbegriffes auffassen  läßt,  so  wollen  wir ihn doch nicht als gleich mit anderen Dingen ansehen, sondern ihn ausdrücklich aus seiner Gruppe herausheben, was sprachlich darin seinen Ausdruck findet, daß wir ihn nicht mit einem Gattungsnamen, sondern mit einem Eigennamen bezeichnen.

… Der dargestellte Unterschied muß das Interesse der Logik in hohem Maß erregen.“

[Heinrich Rickert in „Geschichtsphilosophie“ in Windelband: Die Philosophie im Beginn des 20. Jahrhunderts, Festschrift für Kuno Fischer, Heidelberg, 1907]

 

Welt und Selbst verpolstert

„Wir waren in den Schlüsselposten, als das Fernsehen den Alltag entrückte. Ich selbst habe mich dafür geschlagen, dass regensicher, auf jedem Dorfplatz von Puerto Rico, der Universitäts-Sender strahlen musste. Ich wusste damals noch nicht, wie sehr damit die Reichweite der Sinne schrumpfen musste, und der Horizont mit verwalteten Darstellungsmöbeln verrammelt würde. Ich dachte nicht daran, dass bald das europäische Wetter aus der Abendschau schon den ersten Morgenblick durchs Fenster einfärben würde…

Immer tiefer sinkt die sinnliche Wirklichkeit unter die Folien von Seh-, Hör- und Schmeck-Befehlen. Die Erziehung zum unwirklichen Machwerk beginnt mit den Lehrbüchern, deren Text auf Legenden zu Graphik-Kästen zusammengeschrumpft ist, und endet mit dem Sich-Festhalten des Sterbenden an ermunternden Test-Resultaten über seinen Zustand. Erregende, seelisch besetzende Abstrakta haben sich wie plastische Polsterüberzüge auf die Wahrnehmung von Welt und Selbst gelegt. Ich merke es, wenn ich zu jungen Leuten über die Auferstehung vom Tode spreche: Ihre Schwierigkeit besteht nicht an einem Mangel an Vertrauen, sondern an der Entkörperung ihrer Wahrnehmung, ihr Leben in konstanter Ablenkung vom Fleisch.“

[Ivan Illich in „Verlust von Welt und Fleisch“, 1992]

…und Illich hatte tatsächlich noch keine Ahnung von facebook, „Gefällt mir“-Buttons oder Google-Street-View…

Der Weg der Seele zu sich selbst

„Der Geist erzeugt unzählige Gebilde, die in einer eigentümlichen Selbständigkeit fortexistieren, unabhängig von der Seele, die sie geschaffen hat, wie von jeder anderen, die sie aufnimmt oder ablehnt.

So sieht sich das Subjekt der Kunst wie dem Recht gegenüber, der Religion wie der Technik, der Wissenschaft wie der Sitte – nicht nur von ihrem Inhalt bald angezogen, bald abgestoßen, jetzt mit ihnen verschmolzen wie mit einem Stück – des Ich, bald in Fremdheit und Unberührbarkeit gegen sie; sondern es ist die Form der Festigkeit, des Geronnenseins, der beharrenden Existenz, mit der der Geist, so zum Objekt geworden, sich der strömenden Lebendigkeit, der inneren Selbstverantwortung, den wechselnden Spannungen der subjektiven Seele entgegenstellt; als Geist dem Geiste innerlichst verbunden, aber eben darum unzählige Tragödien an diesem tiefen Formgegensatz erlebend: zwischen dem subjektiven Leben, das rastlos, aber zeitlich endlich ist, und seinen Inhalten, die, einmal geschaffen, unbeweglich, aber zeitlos gültig sind.

Mitten in diesem Dualismus wohnt die Idee der Kultur.“

[Georg Simmel in „Der Begriff und die Tragödie der Kultur“ in „Philosophische Kultur“, 1911]

 

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