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Im Weinberg des Textes

„Die Wandlung des Buchs von einem Verweis auf die Welt zu einem Verweis auf den Verstand läßt sich auf zwei verschiedenartige, aber dennoch verwandte Neuerungen zurückführen; einerseits auf die Entwurzelung des Textes von den Manuskriptseiten und andererseits auf die Loslösung des Buchstabens aus seiner Jahrtausende alten Dienstbarkeit für das Lateinische.

Man konnte den Text seitdem als etwas vom Buch vollkommen Getrenntest sehen. Er wird zu einem Gegenstand, der auch mit geschlossenem Auge visualisiert werden kann.

Die Seite hat nicht mehr die Eigenschaft eines Ackers, in dem die Buchstaben verwurzelt sind. Der neue Text ist ein Gespinst auf den Seiten des Buchs, das in ein eigenständiges Dasein abhebt. Dieser neue Text hat zwar eine materielle Existenz, aber nicht die Existenz gewöhnlicher Dinge; er ist weder hier noch dort. Nur sein Schatten erscheint auf der Seite dieses oder jenes konkreten Buchs. Daraus folgt, daß das Buch nicht mehr das Fenster zu Welt oder zu Gott ist; es ist nicht mehr die durchscheinende optische Einrichtung, mittels derer der Leser einen Zugang zur Schöpfung findet. Soweit es noch ein optisches Instrument bleibt, hat sich das Buch um 180 Grad gedreht, so, als wäre eine konvexe durch eine konkave Linse ersetzt worden.

Aus dem Symbol für kosmische Wirklichkeit ist ein Symbol für das Denken hervorgegangen. Statt des Buchs wird jetzt der Text zum Gegenstand, in dem Gedanken gesammelt und gespiegelt werden.“

[Ivan Illich, „Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand“, 1991 aus dem Englischen von Ylva Eriksson-Kuchenbuch]

 

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„Print encourages a sense of closure, a sense that what is found in a text has been finalized, has reached a state of completion. This sense affects literary creations and it affects analytic philosophical or scientific work.

Before print, writing itself encouraged some sense of noetic closure. By isolating thought on a written surface, detached from any interlocutor, making utterance in this sense autonomous and indifferent to attack, writing presents utterance and thought as uninvolved with all else, somehow self-contained, complete.“

 

[Walter J. Ong in „Orality and Literacy“, 1982]

 

Dissoziation?

„By removing words from the world of sound where they had first had their origin in active human interchange and relegating them definitively to visual surface, and by otherwise exploiting visual space for the management of knowledge, print encouraged human beings to think of their own interior conscious and unconscious resources as more and more thing-like, impersonal and religiously neutral. Print encouraged the mind to sense that its possessions were held in some sort of inert mental space.“

[Walter J. Ong in „Orality and Literacy“, 1982]

disengagement through writing?

„Writing fosters abstractions that disengage knowledge from the arena where human beings struggle with one another. It seperates the knower from the known. By keeping knowledge embedded in the human lifeworld, orality situates knowledge within a context of struggle. Proverbs and riddles are not used simply to store knowledge but to engage others in verbal and intellectual combat: utterance of one proverb or riddle challenges hearers to top it with a more apposite or a contradictory one.

Writing seperates the  knower from the known and thus sets up conditions for ‚objectivity‘, in the sense of personal disengagement or distancing.“

[Walter J. Ong in „Orality and Literacy“, 1982]

 

Wer von uns kennt sie nicht, die Beziehungsgeschichten, in denen durch sms „Schluß gemacht“ wird. Und erst kürzlich erzählte mir jemand, dass ihre Freundin heikle Gespräche am liebsten per sms oder skype führt, im Austausch von Angesicht zu Angesicht dagegen sehr stumm ist, was den Partner wiederum nahe an den Wahnsinn treibt. Dieses mündliche Schweigen und gleichzeitig schriftliche Sprechen kann natürlich viele Gründe haben…

Ich frage mich jedenfalls, ob die Schriftlichkeit neben einer vergrößerten zwischenmenschlichen Distanz, die Ong beschreibt, und die ja zuweilen auch sehr erwünscht sein kann, nicht auch den Schein erhöhter Objektivität oder sogar Kompetenz erweckt und damit zur Selbsttäuschung einlädt.

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דיבר oder Das Wort als Ereignis

„Oral peoples commonly think of names (one kind of words) as conveying power over things. Explanations of Adam’s naming of the animals in Genesis 2:20 usually call condescending attention to this presumably quaint archaic belief. Such a belief is in fact far less quaint than it seems to unreflective chirographic and typographic folk.

First of all, names do give human beings power over what they name: without learning a vast store of names, one is simply powerless to understand, for example, chemistry and to practice chemical engineering. And so with all other intellectual knowledge. Secondly, chirographic and typographic folk tend to think of names as labels, written or printed tags imaginatively affixed to an object named. Oral folk have no sense of a name as a tag, for they have no idea of a name as something that can be seen. Written or printed representations of words can be labels; real, spoken words cannot be.“

[Walter J. Ong in „Orality and Literacy“, 1982]

Töne und Striche

„Die Bezeichnung durch Töne und Striche ist eine bewundernswürdige Abstrakzion. Vier Buchstaben bezeichnen mir Gott; einige Striche eine Million Dinge. Wie leicht wird hier die Handhabung des Universums, wie anschaulich die Konzentrizität der Geisterwelt! Die Sprachlehre ist die Dynamik des Geisterreichs. Ein Kommandowort bewegt Armeen; das Wort Freyheit Nazionen.“

[Friedrich von Hardenberg in Fragmentensammlung, Blüthenstaub 1797/98]

Die Entdeckung des Alphabets

„Der Alte war so mit Begeisterung bei der Sache, daß er nachts von ihnen träumte, von Wörtern, die in Büchern geschrieben standen, auf Mauern, am Himmel, groß und flammend wie das gestirnte All. Gewisse Wörter gefielen ihm besser als andere, und er versuchte, sie auch seiner Frau beizubringen. Dann lernte er, sie miteinander zu verbinden, und eines Tages schrieb er: >>Landwirtschaftliche Genossenschaft der Provinz Parma<<.

Ambanelli zählte die Wörter, die er gelernt hatte, wie man die Säcke voll Korn zählt, die aus der Dreschmaschine kommen, und als er hundert beisammen hatte, meinte er, ein schönes Stück Arbeit geleistet zu haben. >>Jetzt, scheint mir, reicht es für mein Alter.<<

Auf alten Stücken Zeitungspapier suchte Ambanelli die Wörter, die er kannte, und wenn er eines fand, war er zufrieden, als hätte er einen Freund getroffen.“

[Luigi Malerba in Die Entdeckung des Alphabets. Erzählungen, aus dem Italienischen von Joachim A. Frank, 1963]