Schlagwort-Archiv: Schrift

Wert statt Präsenz: die Welt auf dem Kopf

„…mit der Ersetzung der Rede durch die Schrift tritt zugleich der Wert an die Stelle der Präsenz. Dem auf diese Weise preisgegebenen ich bin oder ich bin anwesend wird ein was ich bin oder was ich gelte vorgezogen. ‚Wäre ich anwesend, hätte man nie in Erfahrung bringen können, was ich gelte.‘ [Zitat von Jean-Jacques Rousseau aus dessen „Confessiones“] Ich verzichte auf mein gegenwärtiges Leben, auf meine tatsächliche und konkrete Existenz, um in der Idealität der Wahrheit und des Wertes anerkannt zu werden. Ein hinreichend vertrautes Schema. Der Krieg findet in mir statt, durch ihn will ich mich über mein Leben erheben, immer über ihm wachend, um mich der Anerkennung zu erfreuen, während die Schrift die besondere Erscheinungsform dieses Krieges ist.

[…]

Daß das Zeichen, das Bild oder der Repräsentant zu Kräften werden, mit deren Hilfen ‚die Welt in Bewegung gesetzt‘ wird, das ist der Skandal.

Dieser Skandal und die durch ihn hervorgerufenen Schäden sind zuweilen so irreparabel, daß die Welt auf dem Kopf zu stehen scheint…“

[Jacques Derrida in „Grammatologie“ (1967), Frankfurt am Main. 1996, S. 244 und S. 254]

 

 

 

 

 

 

 

lesen können

„Schlägt man die Bibel auf, stößt man schnell auf Vertrautes, und selbst wenn man sie nicht aufschlägt, meint man doch wenigstens ungefähr zu wissen, worum es geht. Schaut man aber genauer hin, so findet man Mehr, Anderes und Überraschendes. Das fängt schon an, wenn man von den bekannten Stellen ein  Stück vor- oder zurückblättert und etwa nach dem triumphalen Durchzug durch das Rote Meer plötzlich auf das gegen Gott murrende Volk Israel stößt. Aber auch die vertrauten Geschichten erweisen sich bei näherem Hinsehen oft als recht rätselhaft: Eigentlich geht es in ihnen nie so einfach zu, wie man es in Erinnerung hatte, oder die Einfachheit ist selbst bemerkenswert, ja staunenswert, wenn man sie unbefangen ansieht. Wenn man sich mit ihnen beschäftigt, reicht es daher nicht aus, zu wiederholen, was sie sagen oder was man über sie weiß, man muss auch beschreiben, wie sie sagen, was sie sagen: man muss sie lesen können.“

[Daniel Weidner in „Einleitung: Zugänge zum Buch der Bücher“ in „Bibel als Literatur“ hg. von Hans-Peter Schmidt und Daniel Weidner, München, 2008, S. 7]

 

„Wir lieben die abstrakten Ideen“

„Durch die Methode des ‚Wiederkäuens‘ und der Wiedererinnerung wird auch eine andere Tatsache erklärt, nämlich die außerordentliche Einbildungskraft der mittelalterlichen Menschen. Trotz ihrer Überschwenglichkeit erreicht dieses Vermögen bei ihnen eine Kraft und Genauigkeit, die wir nur schwer nachempfinden können. Wir sind gewohnt, gedruckte oder sich bewegende Bilder zu sehen, ohne sie wirklich zu betrachten, und selbst beim Sehen sind wir noch zerstreut. Wir lieben die abstrakten Ideen. Unsere Einbildungskraft ist erlahmt und gestattet uns fast nur noch zu träumen.

Aber bei den Menschen des Mittelalters war sie kraftvoll und lebendig. Mit ihrer Hilfe konnten sie sich die Gestalten vergegenwärtigen, sie ‚anwesend‘ machen, sie mit allen Einzelheiten, von denen die Texte berichten, schauen: die Dinge mit ihren Farben und Ausmaßen, die Menschen mit ihren Kleidern, ihrer Haltung und ihren Handlungen, also den ganzen Rahmen, in dem sie sich bewegen. Man machte sich ein Vergnügen daraus, sie zu beschreiben und sie sozusagen neu zu schaffen, indem man den Bildern und Gefühlen einen sehr lebhaften Ausdruck verlieh.“

[Jean Leclerq in „Wissenschaft und Gottverlangen. Zur Mönchstheologie des Mittelalters“, Düsseldorf, 1963 – aus dem französischen übersetzt von J.und N. Stöber, S. 88]

Bücher können Freunde sein…

„Wer daran denkt, wie gelegen ihm selbst zuweilen dies oder jenes Buch, ja auch nur dieser oder jener Gedanke eines Buches kam, welche Freude es ihm verschaffte, einen andern, von ihm entfernten und doch in seiner Tätigkeit ihm nahen Geist auf seiner eignen oder einer bessern Spur zu finden, wie uns oft ein solcher Gedanke jahrelang beschäftigt und weiterführet: der wird einem Schriftsteller, der zu ihm spricht und ihm sein Inneres mitteilet, nicht als einen Lohndiener, sondern als einen Freund betrachten, der auch mit unvollendeten Gedanken zutraulich hervortritt, damit der erfahrnere Leser mit ihm denke und sein Unvollkommenes der Vollkommenheit näher führe.“

[Johann Gottfried Herder, in der Vorrede zu „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“, 1784 via www.zeno.org]

 

Das Buch als Hafen

„Der buchbezogene Text ist mein Zuhause, und die Gemeinschaft der biblionomen Leser sind die Menschen, die ich mit wir meine.

Dieses Zuhause ist jetzt genauso veraltet wie es mein erstes Zuhause war, als einige wenige Glühbirnen begannen, die Kerze zu ersetzen. In jedem Computer lauert ein Bulldozer mit den englisch verfaßten Versprechen, neue Wege zu data, replacements, inversions und instant print zu eröffnen. Eine neue Art Text formt den Verstand meiner Studenten, ein Aus-Druck, der keinen Anker hat, der keinen Anspruch darauf erheben kann, eine Metapher oder ein Original von der Hand eines Autors zu sein. Seine Schriftzeichen werden willkürlich geformt, sind wie die Signale eines Phantomschiffs, geistern auf dem Bildschirm herum und verschwinden wieder. Immer weniger Menschen gehen an das Buch als Hafen des Sinns heran.“

[Ivan Illich, Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand, aus dem Englischen überstetzt von Ylva Eriksson-Kuchenbuch, Frankfurt/Main, 1991, S. 125]

doppelte Welt

„Man lebt sozusagen in einer doppelten Welt: über der Welt der Fakten liegt, ohne daß diese damit aufgehoben würde, eine zweite Welt, die Welt der Bedeutungen. Möglich und wahr wird eine solche Interpretation unter der Voraussetzung, daß Gott bei der Schöpfung diese Bedeutungen in die Dinge gelegt hat bzw. daß er die Geschichte so lenkt, daß sie auf das Heilsgeschehen verweist. Doch diesen Sinn aufzudecken, dazu bedarf es im Prinzip der Inspiration durch den Heiligen Geist. Der Anruf an den Heiligen Geist, der für die Einleitungen zu diesen moralisch-allegorischen Dichtungen charakteristisch ist, muß, so topisch er klingen mag, als ihr eigentlicher theoretischer Angelpunkt angesehen werden. Und in diesem Bezug ist selbstverständlich der Hörer als dritte Größe mitgesetzt, denn auch er versteht die Sinngebung im Prinzip nur, wenn er sich vom Prozeß der Interpretation der Welt auf das Heilsgeschehen hin erfassen läßt: Verstehen heißt hier ja nicht ein bloß unverbindliches Spiel mit Bedeutungen, es heißt vielmehr Betroffensein von der Allgegenwart des göttlichen Weltplans.“

[Walter Haug in seinem Essay „Schriftlichkeit und Reflexion“, in dem Haug die Entwicklung  eines deutschsprachigen Schrifttums im Mittelalter beschreibt, aufgezeichnet in Assmann/Hardmeier, Schrift und Gedächtnis, 1983].

 

Der ausgewählte Abschnitt bezieht sich auf die volkssprachliche Schriftentwicklung im 11. Jahrhundert und deren enge Verbindung mit geistlichen Inhalten.

Schrift = Wörter, die sich in der Welt herumtreiben

„Und jedes Wort, das einmal geschrieben ist, treibt sich in der Welt herum, – gleichermaßen bei denen, die es verstehen, wie bei denen, die es in keiner Weise angeht, und es weiß nicht, zu wem es sprechen soll und zu wem nicht. Wird es mißhandelt oder zu Unrecht getadelt, dann bedarf es des Vaters immer als Helfers; denn selber hat es sich zu wehren oder sich zu helfen nicht die Kraft.“

[Platon in „Phaidros“ enstanden zwischen 387 und 367 v. Chr., zitiert aus A u. J. Assmann, „Schrift und Gedächtnis“, München, 1983]