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gegen fruchtlosen Fatalismus

„Die Sonne geht auf? Und trotzdem wird sie untergehen. Die Nacht kündigt Verzweiflung an? Trotzdem wird auch sie vorübergehen und nie mehr wiederkommen. Wichtig ist, nicht aufzugeben, sich keinem fruchtlosen Fatalismus zu überlassen. König Salomo, der große Pessimist, hat es treffend gesagt: ‚Die Tage kommen, die Tage gehen. Eine Generation geht, eine andere kommt und wird wieder durch die nächste abgelöst. Nur die Erde besteht weiter, die Sonne geht auf, die Sonne geht unter…, was war, wird sein…‘ Soll man folglich die Zeit anhalten? Und den Lauf der Sonne? Manchmal muß man es versuchen. Selbst wenn es vergeblich ist? Auch dann. Manchmal ist es unsere Aufgabe, etwas zu versuchen, gerade weil es vergeblich ist. Weil am Ende des Weges der Tod auf uns wartet, müssen wir aus vollen Zügen leben. Weil ein Geschehen uns sinnlos erscheint, müssen wir ihm einen Sinn geben. Weil wir unsere Zukunft nicht in den Händen halten, müssen wir sie schaffen.“

Elie Wiesel, „Alle Flüsse fließen ins Meer. Autobiographie“, Hamburg, 1995, S. 30/31

Beobachtungen sind immer einseitig

„Es ist – wer würde das bestreiten? – davon auszugehen, daß alles Beobachten und Beschreiben eine aktuelle, real durchgeführte Operaton ist und ferner: daß diese Operation das, was sie beobachtet bzw. beschreibt, muß unterscheiden können. Dies gilt nicht nur für wissenschaftliche Analyse, sondern auch für die internen Prozesse der Organisationen. Es gilt für innerpsychische Operationen ebenso wie für Kommunikationen. Es gilt für Erleben ebenso wie für Handeln. Immer erfordert Beobachten in diesem sehr allgemeinen Sinn ein Herausgreifen von etwas im Unterschied zu anderem. Also die Benutung einer Unterscheidung, die aber nur auf der einen (der bezeichneten) und nicht auf der anderen Seite zur Anknüpfung weiterer Operationen verwendet werden kann.
Beobachten ist somit zwangsläufig eine Operation mit eingebauter Asymmetrie. Die Forderung, beide Seiten der jeweils beobachtungsleitenden Unterscheidung zugleich zu bezeichnen, läuft deshalb auf die Paradoxie einer einseitigen und zweiseitigen Aktualisierung hinaus.Andererseits muß ein Zugleichfungieren der Unterscheidung als „Form“ des Beboachtens vorausgesetzt werden.Jede Beobachtung verwendet also eine Unterscheidung zugleich zweiseitig und einseitig. Sie braucht (und kann) diese Eigenart jedoch nicht selber beobachten. Sie ist also paradox fundiert, bleibt aber trotzdem operationsfähig, weil sie ihre Paradoxie durch die Faktizität ihres Vollzugs verdeckt – verdecken kann, verdecken muß. Sie sieht nicht, daß sie nicht sieht, was sie nicht sieht, und das ist, wenn man noch einmal transzendentaltheoretisch formulieren will, eine Bedingung ihrer Möglichkeit. Nur ein Beobachter eines Beobachters kann die Paradoxie bezeichnen, die dem beobachteten Beobachten zugrunde liegt; aber dies nur mit einer ebenfalls paradox fundierten Beobachtung.“

[Niklas Luhmann in „Die Paradoxie des Entscheidens“ in der Zeitschrift „Verwaltungs-Archiv: Zeitschrift für Verwaltungslehre, Verwaltungsrecht und Verwaltungspolitik“, 84. Band, Heft 3 vom 1. Juli 1993, S. 293/294]

Mythos Ehe

„Auch die Hochzeit war ein Ritus, der den stabilen Lauf der Welt markierte, doch ist er heute ausgehöhlt bis zur Unkenntlichkeit. Noch dem treuesten Schwur vor dem Altar ist das Scheitern eingeschrieben, per Ehevertrag wird nebenher geregelt, wem das Haus zufällt oder der VW Passat, wenn es zur Scheidung kommt, die man realistischerweise nicht auszuschließen vermag.

Wir sind abgeklärt, da wir die Zukunft als kontingent, als wechselhaft, als offen uns denken. Wer heiratet, heiratet heute immer paradox: Er denkt sich die Ewigkeit als eine mit Verfallsdatum.“

 

[aus dem Artikel „Über erneuerbare Liebe“ von Adam Soboczynski im Zeitmagazin, Ausgabe 22 vom 27.5.2010]