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wir – und die anderen

„Das Wertgefühl der Zivilisierten entsteht aus einem Wechselspiel zwischen der Beobachtung des Selbst und der Aufmerksamkeit auf die Reaktionen Anderer, die sich auf unterschiedlichste Weise zu den Zivilisierten hin orientieren. Dabei ist den Zivilisierten eine fortwährende Bedrohung der eigenen Errungenschaften bewusst. Ein Barbarensturm oder ein Aufstand plebejischer „innerer Barbaren“ könnte sie jederzeit ruinieren, und eine noch größere, da schwerer erkennbare Gefahr bildet das Erlahmen von moralischer Anstrengung, kulturellem Leistungswillen und wirklichkeitsbezogener Umsicht. In China, in Europa und andernorts hat man dies traditionell in der Vorstellung der „Korruption“ in einem weiten Sinne gefasst: Dem Nachlassen schicksalhaften Glücks (fortuna) entsprach das Versiegen der Kraft hohen Idealen zu genügen.

So ist „Zivilisation“ in dem normativen Sinn gesellschaftlicher Verfeinerung eine universale Vorstellung, die zeitlich nicht auf die Moderne eingeschränkt ist. Häufig verbindet sie sich damit die Idee, die Zivilisierten hätten die Aufgabe oder gar die Pflicht, ihre kulturellen Werte und ihren way of life zu verbreiten. Dies kann aus unterschiedlichen Gründen geschehen: um die barbarische Umgebung zu befrieden, um eine als allein wahr empfundene Lehre zu propagieren, oder schlichtweg, um den Barbaren Gutes zu tun. Aus solch unterschiedlichen Motivationsquellen wird die Idee der „Zivilisierungsmission“ gespeist. „Mission“ muss dabei nicht auf die Verbreitung eines religiösen Glaubens beschränkt sein. Vielmehr ist ein umfassendes Sendungsbewusstsein gemeint, die Selbstbeauftragung damit, die eigenen Normen und Institutionen an Andere heranzutragen oder gar ihre Übernahme mit mehr oder minder sanftem Druck zu erzwingen. Dies setzt eine feste Überzeugung von der Höherwertigkeit der eigenen Lebensform voraus.“

[Jürgen Osterhammel, „Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts“, München, 2009, S. 1172 und 1173]

Das europäische Sonderbewusstsein

„Es wäre zu beginnen mit der Beobachtung, daß nahezu alle Europäer – selbst die Verfechter eines nach den Maßstäben der jeweiligen Zeit weitgehenden kulturellen Relativismus – seit dem Beginn der überseeischen Expansion um 1500 den Angehörigen anderer Zivilisationen im Bewußtsein eigener Höherwertigkeit gegenübertraten. Die gesteigerte Weltoffenheit im Zeitalter der Aufklärung, das zugleich eine Epoche des sich formierenden Rassedenkens und virulenter Rechtfertigung der Sklaverei war (bis hin zur Wiedereinführung des Sklavenstatus in allen französischen Kolonien im Juli 1802), hat daran grundsätzlich nichts geändert; anschließend wurde im 19. Jahrhundert das größte Ausmaß an „weißer“ Distanzierung von den übrigen Kulturen erreicht. Dieses europäische Sonderbewußtsein, welches seinen Universalitätsanspruch über einen beliebigen, selbstverständlichen Ethnozentrismus heraushebt, speist sich ursprünglich aus vorneuzeitlichen Quellen: einer Kombination von hellenisistischen Barbarendiskurs und christlicher Heilsgewißheit, die später durch neue Bestätigungsstrategien ergänzt oder ersetzt wird: den Stolz auf die eigene Überlegenheit in der wissenschaftlich-technischen Beherrschung der Natur, die Überzeugung von der Beglaubigung der okzidentalen Ausnahmenstellung durch idealistische oder materialistischen Fortschrittsphilosophen, die Selbstzuschreibung eines globalen Zivilierungs- und Modernisierungsauftrags in der Vorstellungswelt des entwickelten Imperialismus.

Wie auch immer begründet, beruht das europäische Sonderbewußtsein, das sich in interkulturellen Kontaktsituationen am deutlichsten ausprägt und dort zu realen Abgrenzungspraktiken beiträgt, auf Ansichten darüber, was im einzelnen die kritische Differenz zwischen dem Eigenen und dem Fremden ausmache. Es hat eine eigene Geschichte, die in der Antike beginnt, sich über die Translatio des Aristotelismus in die Neue Welt neuzeitlich forsetzt und mit dem Ende der Kolonialreiche keineswegs abgebrochen ist.“

[Jürgen Osterhammel, „Kulturelle Grenzen in der Expansion“ ersch. in: Saeculum: Jahrbuch für Universalgeschichte ; 46 (1995), 1. Hj. – S.130/131]