Schlagwort-Archiv: Luhmann
Politik: eine selbstgeschaffene Wirklichkeit
„Schon jetzt hat die Politik es ständig mit sebstgeschaffenen Wirklichkeiten zu tu. Die Bedürfnisse, die Unerfreulichkeiten, die fast unlösbaren Probleme, denen sie sich gegenüber gestellt sieht, sind zum Teil ihr eigenes Werk. Man denke nur an das Thema Bürokratie. Daraus muß, über kurz oder lang, ein gebrochenes Verhältnis zu den eigenen Zielen folgen.
Die Politik hilft sich in dieser Situation mit relativer Kurzfristigkeit der Kalküle, der Zeithorizonte, der Zielsetzungen. Allgemein verkürzt sich in hochkomplexen Gesellschaften vermutlich der für das Handeln relevante Zeithorizont, weil die Verhältnisse für längerfristige Planung zu komplex sind. Der Politik ist außerdem durch den kurzfristigen Rhythmus der Wahlen eine eigene Zeitstruktur auferlegt. Bei kurzen Zeithorizonten können zahlreiche Interdependenzen ignoriert werden. Sie treten nicht in Erscheinung. Im Blick auf die Vergangenheit kann man vernachlässigen, daß man die Probleme mit genau den Prinzipien erzeugt hat, denen man weiterhin zu folgen gedenkt. Und man kann in Bezug auf die Zukunft hoffen, daß die weitläufigen und unübersehbaren Folgen der Jetztzeitplanung im Rahmen des Kontrollierbaren bleiben werden. Kurze Zeithorizonte entlasten das Handeln, und dieser Vorteil ist nicht gering zu veranschlagen.“
[Niklas Luhmann, Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, München, 1981, S.10 und 11]
t.o.d
„Obwohl unzugänglich für das Bewußtsein (oder gewissermaßen nur sprachlich zugänglich) unterliegen auch Todesvorstellungen sozialer Formung. Der historisch neuartige Individualismus zeichnet sich seit dem 18. Jahrhundert auch in den gesellschaftstypischen Einstellungen zum Tode ab. Der Tod wird privatisiert, was dann wieder erfordert, Tod im öffentlichen Interesse, besonders Kriegstod, mit einer besonderen Sinngebung zu versehen. Zugleich wird das Individuum aber auch – allein schon durch die Konspiration des Schweigens der Ärzte – von seinem Tod abgelenkt; und selbst wenn dies nicht gelingt, wird ihm zugemutet, darüber nicht zu kommunizieren, entsprechende Versuche werden als peinlich empfunden und finden wenig Resonanz.
Die Theorie der bewußtseinsbasierten Autopoiesis reformuliert nur diese bekannten Sachverhalte. Sie postuliert ein eigentümliches Umkehrverhältnis zwischen Individualisierung und Todessemantik: Je individueller ein psychisches System sich begreift und die eigene Autopoiesis reflektiert, desto weniger kann es sich ein Weiterleben nach dem Tod vorstellen und desto unvorstellbarer wird ineins damit der letzte Moment des Bewußtseins. Auch Kommunikation hilft dann nicht über das Unvorstellbare hinweg.“
[Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/Main, 1987, 15. Auflage von 2012, S. 375/376]
Grenzerhaltung = Systemerhaltung
„Systeme sind nicht nur gelegentlich und nicht nur adaptiv, sie sind strukturell an ihrer Umwelt orientiert und könnten ohne Umwelt nicht bestehen. Sie konstituieren und sie erhalten sich durch Erzeugung und Erhaltung einer Differenz zur Umwelt, und sie benutzen ihre Grenzen zur Regulierung dieser Differenz. Ohne Differenz zur Umwelt gäbe es nicht einmal Selbstreferenz, denn Differenz ist Funktionsprämisse selbstreferentieller Operationen. In diesem Sinne ist Grenzerhaltung (boundary maintenance) Systemerhaltung.
Grenzen markieren dabei keinen Abbruch von Zusammenhängen. Man kann auch nicht generell behaupten, daß die internen Interdependenzen höher sind als System/Umwelt-Interdependenzen. Aber der Grenzbegriff besagt, daß grenzüberschreitende Prozesse (zum Beispiel des Energie- oder Informationsaustausches) beim Überschreiten der Grenze unter andere Bedingungen der Fortsetzung (zum Beispiel andere Bedingungen der Verwertbarkeit oder andere Bedingungen des Konsenses) gestellt werden. Dies bedeutet zugleich, daß die Kontingenzen des Prozeßverlaufs, die Offenheiten für andere Möglichkeiten, variieren, je nachdem, ob er für das System im System oder in seiner Umwelt abläuft. Nur soweit dies der Fall ist, bestehen Grenzen, bestehen Systeme.
[Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/Main, 1987, 15. Auflage von 2012, S. 35/36]
Beobachtungen sind immer einseitig
„Es ist – wer würde das bestreiten? – davon auszugehen, daß alles Beobachten und Beschreiben eine aktuelle, real durchgeführte Operaton ist und ferner: daß diese Operation das, was sie beobachtet bzw. beschreibt, muß unterscheiden können. Dies gilt nicht nur für wissenschaftliche Analyse, sondern auch für die internen Prozesse der Organisationen. Es gilt für innerpsychische Operationen ebenso wie für Kommunikationen. Es gilt für Erleben ebenso wie für Handeln. Immer erfordert Beobachten in diesem sehr allgemeinen Sinn ein Herausgreifen von etwas im Unterschied zu anderem. Also die Benutung einer Unterscheidung, die aber nur auf der einen (der bezeichneten) und nicht auf der anderen Seite zur Anknüpfung weiterer Operationen verwendet werden kann.
Beobachten ist somit zwangsläufig eine Operation mit eingebauter Asymmetrie. Die Forderung, beide Seiten der jeweils beobachtungsleitenden Unterscheidung zugleich zu bezeichnen, läuft deshalb auf die Paradoxie einer einseitigen und zweiseitigen Aktualisierung hinaus.Andererseits muß ein Zugleichfungieren der Unterscheidung als „Form“ des Beboachtens vorausgesetzt werden.Jede Beobachtung verwendet also eine Unterscheidung zugleich zweiseitig und einseitig. Sie braucht (und kann) diese Eigenart jedoch nicht selber beobachten. Sie ist also paradox fundiert, bleibt aber trotzdem operationsfähig, weil sie ihre Paradoxie durch die Faktizität ihres Vollzugs verdeckt – verdecken kann, verdecken muß. Sie sieht nicht, daß sie nicht sieht, was sie nicht sieht, und das ist, wenn man noch einmal transzendentaltheoretisch formulieren will, eine Bedingung ihrer Möglichkeit. Nur ein Beobachter eines Beobachters kann die Paradoxie bezeichnen, die dem beobachteten Beobachten zugrunde liegt; aber dies nur mit einer ebenfalls paradox fundierten Beobachtung.“
[Niklas Luhmann in „Die Paradoxie des Entscheidens“ in der Zeitschrift „Verwaltungs-Archiv: Zeitschrift für Verwaltungslehre, Verwaltungsrecht und Verwaltungspolitik“, 84. Band, Heft 3 vom 1. Juli 1993, S. 293/294]
sinn heißt anschlussfähigkeit
„Das Phänomen Sinn erscheint in der Form eines Überschusses von Verweisungen auf weitere Möglichkeiten des Erlebens und Handelns. Etwas steht im Blickpunkt, im Zentrum der Intention, und anderes wird marginal angedeutet als Horizont für ein Und-so-weiter des Erlebens und Handelns. Alles, was intendiert wird, hält auch die Aktualität der Welt in der Form der Zugänglichkeit.“
[Niklas Luhmann in „Soziale Systeme, Grundriß einer allgemeinen Theorie“, 1984]