„Es gibt im Leiden eine Abwesenheit jeder Zuflucht. Sie ist der Sachverhalt, direkt dem Sein ausgesetzt zu sein. Sie ist gebildet aus der Unmöglichkeit zu entfliehen und auszuweichen. Die ganze Schärfe des Leidens liegt in dieser Unmöglichkeit des Ausweichens. Sie ist die Tatsache, in das Leben und in das Sein hinein in die Enge getrieben zu sein. In diesem Sinne ist das Leiden die Unmöglichkeit des Nichts.
Doch zur gleichen Zeit wie den Appell an ein unmögliches Nichts gibt es im Leiden die Nähe des Todes. Es gibt nicht nur das Gefühl und das Wissen, daß das Leiden mit dem Tode enden kann. Der Schmerz in sich selbst bringt so etwas wie eine äußerste Steigerung mit sich, wie wenn etwas noch Zerreißenderes als das Leiden vor sich gehen würde, wie wenn es trotz des Fehlens jeglicher Rückzugsdimension, welches das Leiden ausmacht, noch ein Terrain gäbe, das frei ist für ein Ereignis, wie wenn man sich noch um etwas beunruhigen müßte, wie wenn wir am Vorabend eines Ereignisses stünden, das jenseits dessen liegt, was sich im Leiden bis zum Ende enthüllt hat. Die Struktur des Schmerzes, die gerade darin besteht, an den Schmerz gefesselt zu sein, verlängert sich noch, aber bis zu einem Unbekannten, das in Ausdrücke des Lichts zu übersetzen unmöglich ist, das heißt, das widerspenstig ist gegen die Intimität des Sich mit dem Ich, zu der alle unsere Erfahrungen zurück kehren.“
[Emmanuel Lévinas, Die Zeit und der Andere, Hamburg, 1995, S. 42/43]