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t.o.d

„Obwohl unzugänglich für das Bewußtsein (oder gewissermaßen nur sprachlich zugänglich) unterliegen auch Todesvorstellungen sozialer Formung. Der historisch neuartige Individualismus zeichnet sich seit dem 18. Jahrhundert auch in den gesellschaftstypischen Einstellungen zum Tode ab. Der Tod wird privatisiert, was dann wieder erfordert, Tod im öffentlichen Interesse, besonders Kriegstod, mit einer besonderen Sinngebung zu versehen. Zugleich wird das Individuum aber auch – allein schon durch die Konspiration des Schweigens der Ärzte – von seinem Tod abgelenkt; und selbst wenn dies nicht gelingt, wird ihm zugemutet, darüber nicht zu kommunizieren, entsprechende Versuche werden als peinlich empfunden und finden wenig Resonanz.

Die Theorie der bewußtseinsbasierten Autopoiesis reformuliert nur diese bekannten Sachverhalte. Sie postuliert ein eigentümliches Umkehrverhältnis zwischen Individualisierung und Todessemantik: Je individueller ein psychisches System sich begreift und die eigene Autopoiesis reflektiert, desto weniger kann es sich ein Weiterleben nach dem Tod vorstellen und desto unvorstellbarer wird ineins damit der letzte Moment des Bewußtseins. Auch Kommunikation hilft dann nicht über das Unvorstellbare hinweg.“

[Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/Main, 1987, 15. Auflage von 2012, S. 375/376]