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„Wir lieben die abstrakten Ideen“

„Durch die Methode des ‚Wiederkäuens‘ und der Wiedererinnerung wird auch eine andere Tatsache erklärt, nämlich die außerordentliche Einbildungskraft der mittelalterlichen Menschen. Trotz ihrer Überschwenglichkeit erreicht dieses Vermögen bei ihnen eine Kraft und Genauigkeit, die wir nur schwer nachempfinden können. Wir sind gewohnt, gedruckte oder sich bewegende Bilder zu sehen, ohne sie wirklich zu betrachten, und selbst beim Sehen sind wir noch zerstreut. Wir lieben die abstrakten Ideen. Unsere Einbildungskraft ist erlahmt und gestattet uns fast nur noch zu träumen.

Aber bei den Menschen des Mittelalters war sie kraftvoll und lebendig. Mit ihrer Hilfe konnten sie sich die Gestalten vergegenwärtigen, sie ‚anwesend‘ machen, sie mit allen Einzelheiten, von denen die Texte berichten, schauen: die Dinge mit ihren Farben und Ausmaßen, die Menschen mit ihren Kleidern, ihrer Haltung und ihren Handlungen, also den ganzen Rahmen, in dem sie sich bewegen. Man machte sich ein Vergnügen daraus, sie zu beschreiben und sie sozusagen neu zu schaffen, indem man den Bildern und Gefühlen einen sehr lebhaften Ausdruck verlieh.“

[Jean Leclerq in „Wissenschaft und Gottverlangen. Zur Mönchstheologie des Mittelalters“, Düsseldorf, 1963 – aus dem französischen übersetzt von J.und N. Stöber, S. 88]