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Das Buch als Hafen

„Der buchbezogene Text ist mein Zuhause, und die Gemeinschaft der biblionomen Leser sind die Menschen, die ich mit wir meine.

Dieses Zuhause ist jetzt genauso veraltet wie es mein erstes Zuhause war, als einige wenige Glühbirnen begannen, die Kerze zu ersetzen. In jedem Computer lauert ein Bulldozer mit den englisch verfaßten Versprechen, neue Wege zu data, replacements, inversions und instant print zu eröffnen. Eine neue Art Text formt den Verstand meiner Studenten, ein Aus-Druck, der keinen Anker hat, der keinen Anspruch darauf erheben kann, eine Metapher oder ein Original von der Hand eines Autors zu sein. Seine Schriftzeichen werden willkürlich geformt, sind wie die Signale eines Phantomschiffs, geistern auf dem Bildschirm herum und verschwinden wieder. Immer weniger Menschen gehen an das Buch als Hafen des Sinns heran.“

[Ivan Illich, Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand, aus dem Englischen überstetzt von Ylva Eriksson-Kuchenbuch, Frankfurt/Main, 1991, S. 125]

Welt und Selbst verpolstert

„Wir waren in den Schlüsselposten, als das Fernsehen den Alltag entrückte. Ich selbst habe mich dafür geschlagen, dass regensicher, auf jedem Dorfplatz von Puerto Rico, der Universitäts-Sender strahlen musste. Ich wusste damals noch nicht, wie sehr damit die Reichweite der Sinne schrumpfen musste, und der Horizont mit verwalteten Darstellungsmöbeln verrammelt würde. Ich dachte nicht daran, dass bald das europäische Wetter aus der Abendschau schon den ersten Morgenblick durchs Fenster einfärben würde…

Immer tiefer sinkt die sinnliche Wirklichkeit unter die Folien von Seh-, Hör- und Schmeck-Befehlen. Die Erziehung zum unwirklichen Machwerk beginnt mit den Lehrbüchern, deren Text auf Legenden zu Graphik-Kästen zusammengeschrumpft ist, und endet mit dem Sich-Festhalten des Sterbenden an ermunternden Test-Resultaten über seinen Zustand. Erregende, seelisch besetzende Abstrakta haben sich wie plastische Polsterüberzüge auf die Wahrnehmung von Welt und Selbst gelegt. Ich merke es, wenn ich zu jungen Leuten über die Auferstehung vom Tode spreche: Ihre Schwierigkeit besteht nicht an einem Mangel an Vertrauen, sondern an der Entkörperung ihrer Wahrnehmung, ihr Leben in konstanter Ablenkung vom Fleisch.“

[Ivan Illich in „Verlust von Welt und Fleisch“, 1992]

…und Illich hatte tatsächlich noch keine Ahnung von facebook, „Gefällt mir“-Buttons oder Google-Street-View…

Im Weinberg des Textes

„Die Wandlung des Buchs von einem Verweis auf die Welt zu einem Verweis auf den Verstand läßt sich auf zwei verschiedenartige, aber dennoch verwandte Neuerungen zurückführen; einerseits auf die Entwurzelung des Textes von den Manuskriptseiten und andererseits auf die Loslösung des Buchstabens aus seiner Jahrtausende alten Dienstbarkeit für das Lateinische.

Man konnte den Text seitdem als etwas vom Buch vollkommen Getrenntest sehen. Er wird zu einem Gegenstand, der auch mit geschlossenem Auge visualisiert werden kann.

Die Seite hat nicht mehr die Eigenschaft eines Ackers, in dem die Buchstaben verwurzelt sind. Der neue Text ist ein Gespinst auf den Seiten des Buchs, das in ein eigenständiges Dasein abhebt. Dieser neue Text hat zwar eine materielle Existenz, aber nicht die Existenz gewöhnlicher Dinge; er ist weder hier noch dort. Nur sein Schatten erscheint auf der Seite dieses oder jenes konkreten Buchs. Daraus folgt, daß das Buch nicht mehr das Fenster zu Welt oder zu Gott ist; es ist nicht mehr die durchscheinende optische Einrichtung, mittels derer der Leser einen Zugang zur Schöpfung findet. Soweit es noch ein optisches Instrument bleibt, hat sich das Buch um 180 Grad gedreht, so, als wäre eine konvexe durch eine konkave Linse ersetzt worden.

Aus dem Symbol für kosmische Wirklichkeit ist ein Symbol für das Denken hervorgegangen. Statt des Buchs wird jetzt der Text zum Gegenstand, in dem Gedanken gesammelt und gespiegelt werden.“

[Ivan Illich, „Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand“, 1991 aus dem Englischen von Ylva Eriksson-Kuchenbuch]