Schlagwort-Archiv: Gerechtigkeit

Stabilität contra Gerechtigkeit

„Niemals sollten wir vergessen, daß alles, was Adolf Hitler in Deutschland tat <gesetzmäßig>, und daß alles, was die ungarischen Freiheitskämpfer vollbrachten, <gesetzwidrig> war. …

Ich muß Ihnen, meine christlichen und jüdischen Brüder, zwei ehrliche Bekenntnisse ablegen. Zunächst muß ich gestehen, daß mich im Laufe der jüngsten Jahre am tiefsten die Haltung der weißen <Gemäßigten> enttäuscht hat. Fast bin ich zu dem betrüblichen Schlusse gezwungen worden, daß das große Hindernis für den Neger auf seinem Weg zur Freiheit nicht aus Männern des „White Citizen’s Council“ oder des Ku-Klux-Klan besteht, und es scheint, daß der <gemäßigte> Weiße der Idee der <Ordnung> größere Verehrung entgegenbringt als der Gerechtigkeit an sich. Der weiße <Gemäßigte> zieht einen negativen Frieden (die Abwesenheit von Spannung) einem positiven Frieden (der Herrschaft der Gerechtigkeit) vor. …

Das schale Verhältnis, das Menschen guten Willens einem entgegenbringen, behindert mehr als die absolute Verständnislosigkeit der Übelgesonnenen. Die lauwarme Zustimmung verwirrt viel stärker als die ausgesprochene Ablehnung….“

[Martin Luther King in „Warum wir nicht warten können“, 1964]

wenn das Recht laut spricht…

„Wenn nicht etwas ist, was durch Vernunft unmittelbar Achtung abnötigt (wie das Menschenrecht), so sind alle Einflüsse auf die Willkür der Menschen unvermögend, die Freiheit derselben zu bändigen. Aber wenn, neben dem Wohlwollen, das Recht laut spricht, dann zeigt sich die menschliche Natur nicht so verunartet, daß seine Stimme von derselben nicht mit Ehrerbietung angehört werde.

[Immanuel Kant in „Über den Gemeinspruch: das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“, 1793]

 

Das Recht des Stärkeren ist kein Recht

„Der Stärkste ist nie stark genug, um immerdar Herr zu bleiben, wenn er seine Stärke nicht in Recht und den Gehorsam nicht in Pflicht verwandelt. Daher entspringt das Recht des Stärksten, ein Recht, das scheinbar ironisch aufgefaßt und in der Tat doch als Prinzip anerkannt wird. Aber wird man uns dieses Wort denn nie erklären? Die Stärke ist ein physisches Vermögen; ich begreife nicht, welche sittliche Verpflichtung aus ihren Wirkungen hervorgehen kann. Der Stärke nachgeben ist eine Handlung der Notwendigkeit, nicht des Willens, höchstens eine Handlung der Klugheit. In welchem Sinne kann es eine Pflicht werden?

Lassen wir dieses angebliche Recht einen Augenblick gelten. Nach meiner Überzeugung ergibt sich daraus nur ein unlöslicher Wirrwarr von Begriffen, denn sobald die Stärke das Recht verleiht, so wird die Wirkung mit der Ursache verwechselt; jede Stärke, welche die erste übersteigt, ist die Erbin ihres Rechtes. Sobald man ungestraft nicht gehorchen braucht, besitzt man das Recht dazu, und da der Stärkste immer recht hat, handelt es sich nur darum, es so einzurichten, daß man der Stärkste ist. Was bedeutet nun aber ein Recht, das mit dem Aufhören der Stärke ungültig wird? Muß man aus Zwang gehorchen, so braucht man nicht aus Pflicht zu gehorchen, und wird man nicht mehr zum Gehorchen gezwungen, so ist man dazu auch nicht mehr verpflichtet. Man sieht also, daß das Wörtlein »Recht« der Stärke nichts verleiht; es ist hier vollkommen bedeutungslos.“

[Jean-Jaques Rousseau in „Der Gesellschaftsvertrag“, 1762 nach der Übersetzung von Hermann Denhardt von 1880]

Warum der Staat nicht für unser Glück zuständig ist

„…In Ansehung der ersteren (der Glückseligkeit) kann gar kein allgemein gültiger Grundsatz für Gesetze gegeben werden. Denn, so wohl die Zeitumstände, als auch der sehr einander widerstreitende und dabei immer veränderliche Wahn, worin jemand seine Glückseligkeit setzt (worin er sie aber setzen soll, kann ihm niemand vorschreiben), macht alle feste Grundsätze unmöglich, und zum Prinzip der Gesetzgebung für sich allein untauglich. Der Satz: Salus publica suprema civitatis lex est, bleibt in seinem unverminderten Wert und Ansehen; aber das öffentliche Heil, welches zuerst in Betrachtung zu ziehen steht, ist gerade diejenige gesetzliche Verfassung, die jedem seine Freiheit durch Gesetze sichert: wobei es ihm unbenommen bleibt, seine Glückseligkeit auf jedem Wege, welcher ihm der beste dünkt, zu suchen, wenn er nur nicht jener allgemeinen gesetzmäßigen Freiheit, mithin dem Rechte anderer Mituntertanen, Abbruch tut.“

[Immanuel Kant in „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“, 1793]

merke: Aristoteles hat immer recht

„Der Mensch wird frei geboren, und überall ist er in Banden. Mancher hält sich für den Herrn seiner Mitmenschen und ist trotzdem mehr Sklave als sie. …

Schon von ihnen allen hatte Aristoteles ebenfalls behauptet, daß die Menschen von Natur keineswegs gleich wären, sondern die einen zur Sklaverei und die anderen zur Herrschaft geboren würden.

Aristoteles hatte recht, aber er hielt die Wirkung für die Ursache. Jeder in der Sklaverei geborene Mensch wird für die Sklaverei geboren; nichts ist gewisser. Die Sklaven verlieren in ihren Fesseln alles, sogar den Wunsch, sie abzuwerfen, sie lieben ihre Knechtschaft, wie die Gefährten des Odysseus ihren tierischen Zustand nach ihrer Verwandlung liebten. Wenn es also Sklaven von Natur gibt, so liegt der Grund darin, daß es schon vorher Sklaven wider die Natur gegeben hat. Die Gewalt hat die ersten Sklaven gemacht; ihre Feigheit hat sie beständig erhalten.“

[Jean-Jacques Rousseau: Der Gesellschaftsvertrag,1762 nach der Übersetzung von Hermann Denhardt von 1880]

Gerechtigkeit und Freiheit

"Die Freiheit und die Gerechtigkeit stellen die beiden Ideen dar, mit denen die Politik operiert, durch die sie den Menschen insoweit in den Griff bekommt, als sie beide Ideen berücksichtigt. Läßt die Politik eine der Ideen fallen, wird sie fragwürdig. Ohne Freiheit wird sie unmenschlich und ohne Gerechtigkeit ebenfalls. Dennoch ist die Beziehung der Freiheit zur Gerechtigkeit problematisch. Eine allgemeine Phrase definiert die Politik als die Kunst des Möglichen; sieht man jedoch genauer hin, erweist sie sich als die Kunst des Unmöglichen. Die Freiheit und die Gerechtigkeit bedingen einander nur scheinbar. Die existentielle Idee der Freiheit steht auf einer anderen Ebene als die logische Idee der Gerechtigkeit. Eine existentielle Idee ist emotional gegeben, eine logische Idee konzipiert. Es läßt sich eine Welt der absoluten Freiheit denken und eine Welt der absoluten Gerechtigkeit. Diese beiden Welten würden sich nicht decken, sondern einander widersprechen. Beide würden zwar eine Hölle darstellen, die Welt der absoluten Freiheit einen Dschungel, wo der Mensch wie ein Wild gejagt, die Welt der absoluten Gerechtigkeit ein Gefängnis, wo der Mensch zu Tode gefoltert wird. Die unmögliche Kunst der Politik besteht darin, die emotionale Idee der Freiheit mit der konzipierten Idee der Gerechtigkeit zu versöhnen; das ist nur auf der Ebene des Moralischen möglich und nicht auf der Ebene des Logischen. Anders gesagt: Die Politik vermag nie eine reine Wissenschaft zu sein."

[Friedrich Dürrenmatt in „Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht“, 1969]