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Faszination: Denkkollektiv

„Deshalb ist das Erkennen kein individueller Prozess eines theoretischen ‚Bewußtseins überhaupt‘; es ist Ergebnis sozialer Tätigkeit, da der jeweilige Erkenntnisbestand die einem Individuum gezogenen Grenzen überschreitet. … Der Satz ‚jemand erkennt etwas‘ verlangt [ ] einen Zusatz z.B: ‚auf Grund des bestimmten Erkenntnisbestandes‘ oder besser ‚als Mitglied eines bestimmten Kulturmilieus‘ oder am besten ‚in einem bestimmten Denkstil, in einem bestimmten Denkkollektiv‘. […]

Obwohl das Denkkollektiv aus Individuen besteht, ist es nicht deren einfache Summe. Das Individuum hat nie, oder fast nie das Bewußtsein des kollektiven Denkstiles, der fast immer einen unbedingten Zwang auf sein Denken ausübt und gegen den ein Widerspruch einfach undenkbar ist. […]

Das Erkennen stellt die am stärksten sozialbedingte Tätigkeit des Menschen vor und die Erkenntnis ist das soziale Gebilde katexochen. Schon in dem Aufbau der Sprache liegte eine zwingende Philosophie der Gemeinschaft, schon im einzelnen Worte sind verwickelte Theorien gegeben. Wessen Philosophien, wessen Theorien sind das?

Gedanken kreisen von Individuum zum Individuum, jedesmal etwas umgeformt, denn andere Individuen knüpfen andere Assoziationen an sie an. Streng genommen versteht der Empfänger den Gedanken nie vollkommen in dieser Weise, wie ihn der Sender verstanden haben wollte. Nach einer Reihe solcher Wanderungen ist praktisch nichts mehr vom ursprünglichen Inhalte vorhanden. Wessen Gedanke ist es, der weiter kreist? Ein Kollekitvgedanke eben, einer, der keinem Individuum angehört. Ob Erkenntnisse vom individuellen Standpunkte Wahrheit oder Irrtum, ob sie richtig oder mißverstanden scheinen, sie wandern innerhalb der Gemeinschaft, werden geschliffen, umgeformt, verstärkt oder abgeschwächt, beeinflussen andere Erkenntnisse, Begriffsbildungen, Auffassungen und Denkgewohnheiten.“

[Ludwik Fleck in „Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv“, Frankfurt/M. 1980, S. 54, 56 und 58]

irrlichterne Vergangenheit

„…ob wir wollen oder nicht, wir können nicht von der Vergangenheit – mit allen ihren Irrtümern – loskommen. Sie lebt in übernommenen Begriffen weiter, in Problemfassungen, in schulmäßiger Lehre, im alltäglichen Leben, in der Sprache und in Institutionen. Es gibt keine Generatio spontanea der Begriffe, sie sind, durch ihre Ahnen sozusagen, determiniert. Das Gewesene ist viel gefährlicher – oder eigentlich nur dann gefährlich – wenn die Bindung mit ihm unbewußt und unbekannt bleibt.“

[Ludwik Fleck in „Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv“, Frankfurt/M. 1980, S. 31]