Schlagwort-Archiv: Die ZEIT

„Der Stoff, aus dem Helden sind“

„Zusammenfassend könnte man also sagen: Was uns zu »Helden« macht, ist nicht so sehr unsere Person oder der Glaube an die »richtige« Sache, sondern eher die Fähigkeit, auch in scheinbar alternativlosen Szenarien Handlungsmöglichkeiten zu erkennen; dazu die Kunst, die richtigen Freunde und Netzwerke zu finden, sowie der Mut, den ersten Schritt zu wagen. Moralische Unterscheidungsfähigkeit wächst, wenn man sie nutzt.“

[Natalie Knapp im Artikel „Der Stoff, aus dem Helden sind“, Online-Ausgabe der ZEIT vom 12.3.2013]

Der Vorteil von Schubladen und Etiketten

„Es ist falsch, absurd und schmerzlich, wenn irgendjemand behauptet, dass diejenigen, die Kritik am israelischen Staat üben, antisemitisch oder, falls jüdisch, voller Selbsthass seien.

Man versucht, diejenigen, die eine kritische Auffassung vorbringen, zu dämonisieren und so ihre Sichtweise zu diskreditieren. Es handelt sich um eine Taktik, die darauf abzielt, Menschen zum Schweigen zu bringen: Was immer man sagt, es ist von vornherein abzulehnen oder so zu verdrehen, dass die Triftigkeit des Sprechakts geleugnet wird. Mit dieser Art von Vorwurf weigert man sich, die kritische Sichtweise zu erörtern, ihre Gültigkeit zu diskutieren, ihre Belege zu prüfen und zu einer vernünftig begründeten Schlussfolgerung zu kommen. Der Vorwurf ist nicht nur ein Angriff auf Menschen mit Ansichten, die manche verwerflich finden, sondern auch ein Angriff auf den vernünftigen Austausch an sich.

Wenn eine Gruppe Juden eine andere Gruppe Juden als „antisemitisch“ bezeichnet, dann versucht sie, das Recht, im Namen der Juden zu sprechen, zu monopolisieren. …“

[Judith Butler, Anwärterin auf den diesjährigen Adorno-Preis der Stadt Frankfurt in ihrer Antwort auf ihre Kritiker, am 29.8.2012 übersetzt und veröffentlicht in der ZEIT, vollständig lesbar unter http://www.zeit.de/kultur/literatur/2012-08/judith-butler-kritik-israel-antwort]

Kinder…

„haben gegenüber Erwachsenen einen unschätzbaren Vorteil: Sie richten ihr Handeln nicht ständig an einem schon vorab gegebenen Sinn aus, sondern lassen sich vorurteilslos auf das Erleben des unendlichen Potenzials der Gegenwart ein.

Und diese Offenheit lohnt sich. Denn wenn die üblichen Denkschablonen fallen, öffnet sich der Blick für die außergewöhnlichen, verstörenden und mitunter auch wunderbaren Seiten des Daseins.“

[Ulrich Schnabel im Artikel „Wundert euch! Eine Hamburger Ausstellung lehrt, das Außergewöhnliche im Selbstverständllichen zu entdecken“, ZEIT-Ausgabe vom 6. Oktober 2011, S.64]

darwin lässt grüßen

„Unsere Gesellschaft ist dringend auf jedes einzelne Kind angewiesen – aber es wird so getan, als ginge es immer nur um die Stärksten und Schlausten. Als könnten wir auf alle anderen Kinder verzichten.“

[Henning Sussebach in „Liebe Marie“, einem offenen Brief über den „bildungspolitischen Irrsinn“ des G-8-Gymnasiums an seine zehnjährige Tochter, in der ZEIT vom 26. Mai 2010]

Mitleid contra Ironie

„…Was aber heißt Mitleid genauer? In einem Gespräch sagt der alte Fähmel zu seinem Sohn: <Ich hoffe, du hast nicht in den Eisschränken der Ironie das Gefühl der Überlegenheit frisch erhalten, wie ich es immer tat.> Das ist Böll. Auch er wollte nicht das Gefühl der Überlegenheit, wollte es nicht in den Eisschränken der Ironie frisch erhalten. Der Ironiker hält sich aus allem heraus, er stellt sich über oder neben den ironisierten Gegenstand, als hätte er mit ihm nichts zu tun. In Bölls Humor hingegen erkennen wir eine Haltung, die sich als Teil des Zusammenhangs betrachtet, den sie belächelt. Wir können diese Haltung als christliche Caritas beschreiben, als absichtslose, vom eigenen Nutzen absehende Zuwendung. Das ist die Bedingung von Mitleid. Und dieses Mitleid ist nicht nur eine moralische Kategorie, sondern auch eine ästhetische. Ästhetik bedeutet zuallererst Wahrnehmung, und aus dem Ästhetischen folgt zwingend das Literarische, weshalb Böll sich immer geweigert hat, Moral und Ästhetik voneinander zu trennen.

Wer zum Mitleid imstande ist, der kennt auch den Zorn und die Empörung. Der Ironiker weiß nichts davon. Warum sollte er sich empören? Er hat ja seine Ironie. Böll allerdings war zornig bis zuletzt, und auch dieser Zorn ist eine ästhetische Kategorie, eine Kategorie der Wahrnehmung. Wir aber, wir leben in ironischen Zeiten. Wir sind bestens informiert, und wir lächeln ironisch über das, was die Informationen an Skandal enthalten. Es könnte aber sein, dass sich das Zeitalter der Ironie seinem Ende nähert, es könnte sein, dass wir wieder auf Heinrich Böll zurückkommen müssen, um von ihm zu lernen, was Mitleid heißt.“

[Ulrich Greiner in einem Artikel über das Werk Heinrich Bölls mit dem Titel „Der Schriftsteller des Mitleids“ in der ZEIT, Ausgabe vom 27.Januar 2011]

repose – oder die Kunst, demütig ohne nachgiebig zu sein

ZEIT: „Sie hatten im Urwald zwei Bücher, die Bibel und die Enzyklopädie Le Grand Larousse. Wie hätten Sie sich entschieden, wenn die Rebellen Sie gezwungen hätten, zwischen diesen Büchern zu wählen?“

Betancour: „Ich weiß nicht. Der Larousse half mir, eine Brücke zu finden zu den Dingen des Lebens, die ich verloren hatte. Die Bibel las ich immerzu, ich vertiefte mich in die einzelnen Kapitel. Jetzt, wo Sie fragen, verstehe ich, dass ich nur durch Sprache, durch das Wort, überlebt habe.“

ZEIT: „Waren Sie vorher religiös?“

Betancour: „Ich dachte, dass es Gott vermutlich gäbe. Im Urwald habe ich vestanden, dass wir durch Gottes Gnade leben.“

ZEIT: „Wie haben Sie das erlebt?“

Betancour: „Als – repose. Verstehen Sie? Ich kann es nur auf Französisch sagen – repose wie <Ruhe>.

ZEIT: Sie hätten Anlass gehabt, zu denken, dass Gott Sie strafen wollte für den Übermut, nach den Sternen zu greifen. Erste Präsidentin Kolumbiens!“

Bentacour: „Das habe ich lange gedacht. Ich habe mit Gott gerechtet. Gewütet. Dann habe ich verstanden, dass man demütig sein muss.“

ZEIT: „Aber nicht auch die andere Wange hinhalten?“

Bentacour: „Auch darüber habe ich nachgedacht. In dieser Haltung liegt keine Nachgiebigkeit. Sie wächst aus der Stärke der Einsicht, dass nichts, was jemand tut, einen mehr verletzen kann.“

 

[aus dem ZEIT-Interview der Ausgabe vom 23.9.2010 mit der Politikerin Ingrid Bentacourt, die von 2002-2008 in Geiselhaft im kolumbianischen Urwald lebte]

Authentizität contra Aufrichtigkeit

„In einer berühmten Vorlesungsreihe prägte der New Yorker Literaturkritiker Lionel Trilling 1970 zwei diametral entgegengesetzte kulturelle Leitbegriffe, die er mit den englischen Worten sincerity (Aufrichtigkeit) und authenticity (Authentizität) umschrieb.

Sincerity hieß für Trilling die Bemühung des Einzelnen, das äußere soziale und das innere private Leben ohne Selbstverstellung möglichst in Einklang zu bringen. Authenticity dagegen sei von der Suche nach Selbstbefreiung und -offenbarung geprägt. Sincerity impliziere ein gewisses Verständnis für die Erfordernisse des Gesellschaftlichen, für Tradition und für die Notwendigkeit des redlichen Rollenspiels. Authenticity dulde im Gegenteil ungern das Konventionelle; sie verlange das ungebundene Ausleben des Ichs.

In der Kulturgeschichte Westeuropas über die letzten 500 Jahre erkannte Trilling ein stetes Oszillieren zwischen diesen zwei ethischen Orientierungen. Spätestens seit der Romantik sei die westliche Moderne jedoch durch einen Siegeszug der Authentizität auf Kosten der alten Aufrichtigkeit gekennzeichnet gewesen.“

[Christopher Clark im Artikel „Keine von uns“ im Feuilleton der ZEIT vom 15. Juli 2010]