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»Gegenwart der Vergangenheit«

„Dieser Hang zur Geschichtsliteratur ist als das mehr oder weniger eindeutige Zeichen der großen Besonderheit des 20. Jahrhunderts zu erkennen: Der Mensch versteht sich nicht mehr als ein freies, autonomes Wesen, unabhängig von der Welt, die er beeinflußt, ohne sie zu determinieren. Er wird sich seiner selbst innerhalb der Geschichte bewußt, er fühlt sich eng verbunden mit der Verkettung der Zeiten und kann sich nicht mehr losgelöst von der Kontinuität früherer Zeitalter begreifen. Er ist neugierig auf die Geschichte wie auf eine Forsetzung seiner selbst, eines Teiles seines Wesens. Er spürt mehr oder weniger deutlich, daß sie ihm nicht gleichgültig sein kann. Nie zuvor im Ablauf der Zeiten gab es in der Menschheit ein entsprechendes Gefühl. Jede Generation, oder jede Folge von Generationen hatte es im Gegenteil eilig, die Besonderheiten der vorangegangenen Zeitalter zu vergessen.
Heute aber bezieht sich jede unserer Überlegungen, unserer Entscheidungen mehr oder weniger bewußt auf die Geschichte. Kein Gewohnheitsmerkmal unterstreicht diese Tatsache klarer und einfacher als die Vorliebe für alte Möbel, eine Vorliebe, die sich parallel zur Verbreitung der populärwissenschaftlichen Geschichtsbücher entwickelt hat. In welcher Epoche, außer vielleicht im eklektizistischen Rom Hadrians, hat man denn gemeinhin Antiquitäten gesammelt, um in täglicher Vertrautheit damit zu leben? Trotz der Anstrengungen der modernen Innenarchitekten gelingt es den neuen Stilrichtungen nicht, aus den häuslichen Einrichtungen das Wohnhimmer im Louis-XVI-Stil und das Directoire-Eßzimmer zu verdrängen. Es handelt sich nicht um eine vroübergehende Mode, sondern um eine tiefgreifende Veränderung des Geschmacks: die Vergangenheit ist an die Gegenwart herangerückt, sie überdauert im alltäglichen Dekor des Lebens.“

[Philippe Ariès, Zeit und Geschichte, Frankfurt/Main, 1988, S. 27/28]