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„ich bin, der ich war“

„Wer aber altert, dessen Kredit erschöpft sich. Dessen Horizont rückt ihm an den Leib, dessen Morgen und Übermorgen hat keine Kraft und keine Gewißheit. Er ist nur, der er ist. Das Kommende ist nicht mehr um ihn und darum auch nicht in ihm. Auf ein Werden kann er sich nicht berufen. Er zeigt der Welt ein nacktes Sein. Doch kann er gleichwohl bestehen, wenn in diesem Sein ausgewogen ein Gewesen ruht.
Ach wissen Sie, sagt der Alternde, dessen zukunftsloses Sein ein sozial nicht dementiertes Gewesensein enthält – ach wissen Sie, da sehen Sie vielleicht nur den kleinen Buchhalter, den mittelmäßigen Maler, den mühselig die Stiegen hinaufkeuchenden Asthmatiker. Sie sehen den, der ich bin, nicht den, der ich war. Aber auch der ich war, macht mein Ich noch aus, und da kann ich Ihnen auf Ehre versichern, daß mein Mathematiklehrer große Hoffnungen in mich setzte, daß meine erste Ausstellung brillante Kritiken fand, daß ich ein guter Skifahrer war. Nehmen Sie dies doch bitte hinein in das Bild, das Sie sich von mir machen. Billigen Sie mir die Dimension meiner Vergangenheit zu, ich wäre sonst ganz unvollständig.“

[Jean Améry, Wieviel Heimat braucht der Mensch in ders. „Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten“, Stuttgart, 1977, 7. Auflage, 2012, S. 108/109]

Gesichter wie irgendwer

“ ‚Rien n’arrive ni comme on l’espère, ni comme on le craint‘, heißt es an einer Stelle bei Proust. Nichts ereignet sich in der Tat so, wie wir es erhoffen, noch so, wie wir es befürchten. Aber nicht darum, weil etwa, wie man so sagt, das Geschehnis „die Vorstellungskraft übersteige“ (es ist keine quantitative Frage), sondern weil es Wirklichkeit ist und nicht Imagination. Man kann ein Leben daran wenden, das Eingebildete und das Wirkliche gegeneinanderzuhalten, und wird dennoch niemals damit zu Rande kommen. Vieles geschieht ja in der Tat ungefähr so, wie man es vorstellend vorwegnahm. Gestapomänner in Ledermänteln, den Lauf der Pistole auf ihr Opfer gezielt, damit hat es schon seine Richtigkeit. Aber dann eröffnet sich fast verblüffend die Einsicht, daß die Kerle nicht nur Ledermäntel und Pistolen haben, sondern auch Gesichter: keine „Gestapogesichter“ mit verdrehten Nasen, hypertrophierten Kinnpartien, Pocken- oder Messerstichnarben, wie sie im Buche stehen könnten.
Vielmehr: Gesichter wie irgendwer. Dutzendgesichter. Und die ungeheure, wider jede abstrahierende Vortellung zertörende Erkenntnis eines späteren Stadiums macht uns deutlich, wie die Dutzendgesichter dann schließlich doch zu Gestapogesichtern werden und wie das Böse die Banalität überlagert und überhöht. Es gibt nämlich keine „Banalität des Bösen“; und Hannah Arendt, die in ihrem Eichmann-Buch davon schrieb, kannte den Menschenfeind nur vom Hörensagen und sah ihn nur durch den gläsernen Käfig.
Wo ein Ereignis uns bis zum äußersten herausfordert, dort sollte nicht von Banalität gesprochen werden, denn an diesem Punkt gibt es keine Abstraktion mehr und niemals eine der Realität sich auch nur annähernde Einbildungskraft.“

[Jean Améry in „Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten“, Stuttgart, 1977, im Kapitel „Die Tortur“, S. 57/58]

nicht fensterlos

„Ich wollte nicht gehören zu ihnen, den gläubigen Kameraden, aber ich hätte mir gewünscht, zu sein wie sie, unerschütterlich, ruhig, stark. Was ich damals zu begreifen glaubte, erscheint mir immer noch als Gewißheit: Der im weitesten Sinne gläubige Mensch, sei sein Glaube ein metaphysischer oder ein immanenzgebundener, überschreitet sich selbst. Er ist nicht der Gefangene seiner Individualität, sondern gerhört einem geistigen Kontinuum an, das nirgends, und auch in Auschwitz nicht, unterbrochen wird. Er ist zugleich wirklichkeitsfremder und wirklichkeitsnäher als der Glaubenslose. Wirklichkeitsfremder, da er doch in seiner finalistischen Grundhaltung die gegebenen Realitätsinhalte links liegen läßt und darum seinerseits kraftvoll auf sie einwirken kann. Dem glaubensfreien Menschen ist die Wirklichkeit im schlimmen Fall eine Gewalt, der er sich überläßt, im günstigen ist sie ihm Material für die Analyse. Dem Gläubigen ist sie Ton, den er formt Aufgabe, die er löst.“

[Jean Améry in „Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten“, Stuttgart, 1977, S. 39]