„Wer aber altert, dessen Kredit erschöpft sich. Dessen Horizont rückt ihm an den Leib, dessen Morgen und Übermorgen hat keine Kraft und keine Gewißheit. Er ist nur, der er ist. Das Kommende ist nicht mehr um ihn und darum auch nicht in ihm. Auf ein Werden kann er sich nicht berufen. Er zeigt der Welt ein nacktes Sein. Doch kann er gleichwohl bestehen, wenn in diesem Sein ausgewogen ein Gewesen ruht.
Ach wissen Sie, sagt der Alternde, dessen zukunftsloses Sein ein sozial nicht dementiertes Gewesensein enthält – ach wissen Sie, da sehen Sie vielleicht nur den kleinen Buchhalter, den mittelmäßigen Maler, den mühselig die Stiegen hinaufkeuchenden Asthmatiker. Sie sehen den, der ich bin, nicht den, der ich war. Aber auch der ich war, macht mein Ich noch aus, und da kann ich Ihnen auf Ehre versichern, daß mein Mathematiklehrer große Hoffnungen in mich setzte, daß meine erste Ausstellung brillante Kritiken fand, daß ich ein guter Skifahrer war. Nehmen Sie dies doch bitte hinein in das Bild, das Sie sich von mir machen. Billigen Sie mir die Dimension meiner Vergangenheit zu, ich wäre sonst ganz unvollständig.“
[Jean Améry, Wieviel Heimat braucht der Mensch in ders. „Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten“, Stuttgart, 1977, 7. Auflage, 2012, S. 108/109]