Schlagwort-Archiv: Ambivalenz

Das Kreuz mit dem Kreuz

„Weshalb dann die Verbannung des Kreuzes? Zentrales Argument ist die These des Gerichts, das Kreuz sei „Symbol einer bestimmten religiösen Überzeugung und nicht etwa nur Ausdruck einer vom Christentum mitgeprägten abendländischen Kultur. Es hat appellativen Charakter und weist die von ihm symbolisierten Glaubensinhalte als vorbildhaft und befolgungswürdig aus.“ … „Welche Glaubensinhalte denn?“ … „Die großen Theologen haben gewußt, daß die Botschaft des Kreuzes immer von neuem gedeutet, erstritten und erkämpft werden muß. Cusanus hat gesagt: Multiplicatio sermonum perutilis est. Sehr frei übersetzt: Je mehr sich an der Auslegung beteiligen, desto besser.

 

Das Kreuz ist auch schon umgedreht und als Schwert mißbraucht worden. Es hat das Licht der Vernunft und die Wärme der Nächstenliebe verbreitet, es hat dem Totschlag und der Demagogie gedient. Es gibt kein anderes Symbol, das die Ambivalenz und die Widersprüche der europäischen Kultur derart geschichtsmächtig ausdrückt. Und es gibt keine andere als die christlich-abendländische Kultur, die derart streitbar und neugierig, bis an den Rand der Selbstpreisgabe, sich anderen Kulturen und anderem Denken öffnet. Das Christentum ist die Religion der Bestreitung schlechthin, seiner Gegner wie seiner selbst. Die Aufklärung, der wir die Trennung von Staat und Kirche verdanken, wäre ohne es nicht denkbar.

 

Wie seltsam phantasielos, wie kleinmütig doch die Karlsruher Richter (auch die dissentierenden) sind! Als dürfte das Kreuz nicht auch zum Widerspruch herausfordern, zur abweichenden Lesart oder gar zum tätigen Zorn, als müßte derjenige, der es erblickt, auf die Knie fallen. Nicht einmal der Gläubige muß das. Aber der Gebildete muß wissen, daß er dem Kreuz, als dem Zeichen der Geschichte, aus der wir kommen, nicht dadurch entrinnt, daß er es entfernt. Der Fleck bleibt an der Wand.“

[Ulrich Greiner 1995 in der ZEIT, Ausgabe 34 im Artikel Der Fleck an der Wand, ein Kommentar zum sog. Kruzifix-Urteil]

Antagonismus der menschlichen Natur

„Ich verstehe hier unter dem Antagonism die ungesellige Geselligkeit der Menschen, d.i. den Hang derselben in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstande, welcher diese Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist. Hierzu liegt die Anlage offenbar in der menschlichen Natur. Der Mensch hat eine Neigung sich zu vergesellschaften: weil er in einem solchen Zustande sich  mehr als Mensch, d.i. die Entwickelung seiner Naturanlagen, fühlt. Er hat aber auch einen großen Hang sich zu vereinzelnen (isoliren): weil er in sich zugleich die ungesellige Eingenschaft antrifft, alles bloß nach seinem Sinne richten zu wollen, und daher allerwärts Widerstand erwartet, so wie er von sich selbst weiß, daß er seinerseits zum Widerstand gegen andere geneigt ist. Dieser Widerstand ist es nun, welcher alle Kräfte des Menschen erweckt, ihn dahin bringt seinen Hang zur Faulheit zu überwinden und, getrieben von Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht, sich einen Rang unter seinen Mitgenossen zu verschaffen, die er nicht wohl leiden, von denen er aber auch nicht lassen kann.“

(aus Immanuel Kant, „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“, 1784)