Schlagwort-Archiv: Ambivalenz

das Fremde und das Wir

„Alle Erfahrung des Fremden schließt immer auch die Möglichkeit der Erfahrung seiner Ambivalenz als Bereicherung und als Gefahr ein. Wie Forschungsergebnisse der Humanethologie annehmen lassen, ist derselbe Impuls, der die Menschen aneinander bindet und zur Gruppenbildung anregt, auch für die Entstehung von Fremdheit und Feindschaft verantwortlich. Als Gegenthema zum Kulturthema Fremdheit wäre demnach grundsätzlich die Frage nach der kollektiven Eigenheit, die in Abgrenzungsbegriffen wie kulturelle und soziale Zugehörigkeit, Normenhaushalt, Selbstheit und Sicherheit erfaßbar wird, anzusehen.
Doch die latente Fragehaltung des kulturell Fremden an seine Gastkultur wurde in Deutschland bisher vornehmlich als Verunsicherung, nicht als Chance zu kollektiver Selbsterkenntnis begriffen. In dieser Reduktion der Komplexität der in den achziger Jahren ubiquitär gewordenen und in der deutschen Öffentlichkeit täglich erfahrenen Anwesenheit vieler angeworbener und nichtangeworbener ausländischer Arbeitsmigranten steckt wahrscheinlich ebenfalls eine der wichtigsten Ursachen der Konjunktur des Fremdheitsthemas.“

[Alois Wierlacher, „Kulturthema Fremdheit. Leitbegriffe und Problemfelder kulturwissenschaftlicher Fremdheitsforschung“, München, 2001, S. 35]

Die Stachelschwein-Parabel

„Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich an einem kalten Wintertage recht nah zusammen, um sich durch die gegenseitige Wärme vor dem Erfrieren zu schützen. Jedoch bald empfanden sie die gegenseitigen Stacheln, welches sie dann wieder von einander entfernte. Wann nun das Bedürfnis der Erwärmung sie wieder näher zusammenbrachte, wiederholte sich jenes zweite Übel, so daß sie zwischen beiden Leiden hin und her geworfen wurden, bis sie eine mäßige Entfernung voneinander herausgefunden hatten, in der sie es am besten aushalten konnten.

So treibt das Bedürfnis der Gesellschaft, aus der Leere und Monotonie des eigenen Innern entsprungen, die Menschen zueinander; aber ihre vielen widerwärtigen Eigenschaften und unerträglichen Fehler stoßen sie wieder voneinander ab. Die mittlere Entfernung, die sie endlich herausfinden, und bei welcher ein Beisammensein bestehen kann, ist die Höflichkeit und feine Sitte. Dem, der sich nicht in dieser Entfernung hält, ruft man in England zu: keep your distance! – Vermöge derselben wird zwar das Bedürfnis gegenseitiger Erwärmung nur unvollkommen befriedigt, dafür aber der Stich der Stacheln nicht empfunden.

Wer jedoch viel eigene, innere Wärme hat, bleibt lieber aus der Gesellschaft weg, um keine Beschwerde zu geben, noch zu empfangen.“

[Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften, Berlin, 1851, S. 524/525]

Gegensätze als Tragik des menschlichen Lebens

«In der Zeit der Übergänge, in denen die neuen Gedanken mit den alten in Streit lagen, hatte ich manchmal das Gefühl einer Art von Verrat an meinen liberalen Freunden, das um so schmerzhafter war, als sie mir im persönlichen Umgang immer die gemäßesten – also auch die liebsten – blieben. Heute habe ich dieses Gefühl des Zwiespalts nicht mehr. Ich fühle mich fähig, entgegengesetzte Elemente in mir zu beherbergen und jedem (der Mutter, dem Vater, der eigenen Generation) zu seiner Stunde sein Recht zu gewähren. Der Preis dafür ist, dass ich auf die Frage, ob ich links oder rechts, konservativ, liberal oder revolutionär sei, keine Antwort weiß. Das ist nicht die Bereitschaft zu einer Abfolge von faulen Kompromissen. Es entspringt der Überzeugung, dass wir im Ausharren in der Polarität der Gegensätze die unauflösliche Tragik des menschlichen Lebens erfahren können, die nicht mit gutem Willen und nicht mit dem Verstand zu überwinden ist, in der wir aber, sofern wir sie anerkennen, wenn auch noch so selten, einmal den Schlüssel finden mögen, der die Gegensätze bindet und löst.»

[Margret Boveri in "Der Verrat im 20. Jahrhundert." Das Standardwerk in einer Gesamtausgabe, Hamburg, 1976, S. 777]

 

Tragödie der Kultur

„Was man als die Behangenheit und Überladung unseres Lebens mit tausend Überflüssigkeiten beklagt, von denen wir uns doch nicht befreien können, als das fortwährende „Angeregtsein“ des Kulturmenschen“, den all dies doch nicht zu eigenem Schöpfertum anregt, als das bloße Kennen oder Genießen von tausend Dingen, die unsere Entwicklung nicht in sich einbeziehen kann und die als Ballast in ihr liegen bleiben – all diese oft formulierten spezifischen Kulturleiden sind nichts anderes, als die Phänomene jener Emanzipation des objektivierten Geistes.

Dass diese besteht, bedeutet eben, dass die Kulturinhalte schließlich einer von ihrem Kulturzweck unabhängigen und von ihm immer weiter abführenden Logik folgen, ohne dass doch der Weg des Subjektes von all diesem, qualitativ und quantitativ unangemessen gewordenen, entlastet wäre.

Vielmehr, da dieser Weg, als kultureller, durch das Selbständig- und Objektivwerden der seelischen Inhalte bedingt ist, so entsteht die tragische Situation, dass die Kultur eigentlich schon in ihrem ersten Daseinsmomente diejenige Form ihrer Inhalte in sich birgt, die ihr inneres Wesen: den Weg der Seele von sich als der unvollendeten zu sich selbst als der vollendeten – wie durch eine immanente Unvermeidlichkeit abzulenken, zu belasten, ratlos und zwiespältig zu machen bestimmt ist.“

[Georg Simmel in „Philosophische Kultur“, 1919]

frech

„So steigt der Mensch auf gefährlichen Wegen in die höchsten Gebirge, um über seine Ängstlichkeit und seine schlotternden Knie hohnzulachen; so bekennt sich der Philosoph zu Ansichten der Askese, Demut und Heiligkeit, in deren Glanze sein eigenes Bild auf das ärgste verhäßlicht wird. Dieses Zerbrechen seiner selbst, dieser Spott über die eigene Natur, dieses spernere se sperni, aus dem die Religionen so viel gemacht haben, ist eigentlich ein sehr hoher Grad der Eitelkeit. Die ganze Moral der Bergpredigt gehört hierher: der Mensch hat eine wahre Wollust darin, sich durch übertriebene Ansprüche zu vergewaltigen und dieses tyrannisch fordernde Etwas in seiner Seele nachher zu vergöttern. In jeder asketischen Moral betet der Mensch einen Teil von sich als Gott an und hat dazu nötig, den übrigen Teil zu diabolisieren.“

[Friedrich Nietzsche in „Menschliches, Allzumenschliches“, 1878]

 

spernere se sperni: verachten, dass man verachtet wird.

 

Die ethische Irrationalität der Welt ertragen?

Wir müssen uns klarmachen, dass alles ethisch orientierte Handeln unter zwei voneinander grundverschiedenen, unaustragbar gegensätzlichen Maximen stehen kann: es kann »gesinnungsethisch« oder »verantwortungsethisch« orientiert sein. Nicht dass Gesinnungsethik mit Verantwortungslosigkeit und Verantwortungsethik mit Gesinnungslosigkeit identisch wäre. Davon ist natürlich keine Rede. Aber es ist ein abgrundtiefer Gegensatz, ob man unter der gesinnungsethischen Maxime handelt – religiös geredet: »Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim« –, oder unter der verantwortungsethischen: dass man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat. … Wenn die Folgen einer aus reiner Gesinnung fließenden Handlung üble sind, so gilt ihm [dem Gesinnungsethiker] nicht der Handelnde, sondern die Welt dafür verantwortlich, die Dummheit der anderen Menschen oder – der Wille des Gottes, der sie so schuf. Der Verantwortungsethiker dagegen rechnet mit eben jenen durchschnittlichen Defekten der Menschen, – er hat, wie FICHTE richtig gesagt hat, gar kein Recht, ihre Güte und Vollkommenheit vorauszusetzen, er fühlt sich nicht in der Lage, die Folgen eigenen Tuns, soweit er sie voraussehen konnte, auf andere abzuwälzen. Er wird sagen: diese Folgen werden meinem Tun zugerechnet. »Verantwortlich« fühlt sich der Gesinnungsethiker nur dafür, dass die Flamme der reinen Gesinnung, die Flamme z.B. des Protestes gegen die Ungerechtigkeit der sozialen Ordnung, nicht erlischt. Sie stets neu anzufachen, ist der Zweck seiner, vom möglichen Erfolg her beurteilt, ganz irrationalen Taten, die nur exemplarischen Wert haben können und sollen.

Aber auch damit ist das Problem noch nicht zu Ende. Keine Ethik der Welt kommt um die Tatsache herum, dass die Erreichung »guter« Zwecke in zahlreichen Fällen daran gebunden ist, dass man sittlich bedenkliche oder mindestens gefährliche Mittel und die Möglichkeit oder auch die Wahrscheinlichkeit übler Nebenerfolge mit in den Kauf nimmt, und keine Ethik der Welt kann ergeben: wann und in welchem Umfang der ethisch gute Zweck die ethisch gefährlichen Mittel und Nebenerfolge »heiligt«…“

 

[aus Max Webers, „Politik als Beruf“, 1919]

 

Authentizität contra Aufrichtigkeit

„In einer berühmten Vorlesungsreihe prägte der New Yorker Literaturkritiker Lionel Trilling 1970 zwei diametral entgegengesetzte kulturelle Leitbegriffe, die er mit den englischen Worten sincerity (Aufrichtigkeit) und authenticity (Authentizität) umschrieb.

Sincerity hieß für Trilling die Bemühung des Einzelnen, das äußere soziale und das innere private Leben ohne Selbstverstellung möglichst in Einklang zu bringen. Authenticity dagegen sei von der Suche nach Selbstbefreiung und -offenbarung geprägt. Sincerity impliziere ein gewisses Verständnis für die Erfordernisse des Gesellschaftlichen, für Tradition und für die Notwendigkeit des redlichen Rollenspiels. Authenticity dulde im Gegenteil ungern das Konventionelle; sie verlange das ungebundene Ausleben des Ichs.

In der Kulturgeschichte Westeuropas über die letzten 500 Jahre erkannte Trilling ein stetes Oszillieren zwischen diesen zwei ethischen Orientierungen. Spätestens seit der Romantik sei die westliche Moderne jedoch durch einen Siegeszug der Authentizität auf Kosten der alten Aufrichtigkeit gekennzeichnet gewesen.“

[Christopher Clark im Artikel „Keine von uns“ im Feuilleton der ZEIT vom 15. Juli 2010]