Leiden und Sein

„Es gibt im Leiden eine Abwesenheit jeder Zuflucht. Sie ist der Sachverhalt, direkt dem Sein ausgesetzt zu sein. Sie ist gebildet aus der Unmöglichkeit zu entfliehen und auszuweichen. Die ganze Schärfe des Leidens liegt in dieser Unmöglichkeit des Ausweichens. Sie ist die Tatsache, in das Leben und in das Sein hinein in die Enge getrieben zu sein. In diesem Sinne ist das Leiden die Unmöglichkeit des Nichts.

Doch zur gleichen Zeit wie den Appell an ein unmögliches Nichts gibt es im Leiden die Nähe des Todes. Es gibt nicht nur das Gefühl und das Wissen, daß das Leiden mit dem Tode enden kann. Der Schmerz in sich selbst bringt so etwas wie eine äußerste Steigerung mit sich, wie wenn etwas noch Zerreißenderes als das Leiden vor sich gehen würde, wie wenn es trotz des Fehlens jeglicher Rückzugsdimension, welches das Leiden ausmacht, noch ein Terrain gäbe, das frei ist für ein Ereignis, wie wenn man sich noch um etwas beunruhigen müßte, wie wenn wir am Vorabend eines Ereignisses stünden, das jenseits dessen liegt, was sich im Leiden bis zum Ende enthüllt hat. Die Struktur des Schmerzes, die gerade darin besteht, an den Schmerz gefesselt zu sein, verlängert sich noch, aber bis zu einem Unbekannten, das in Ausdrücke des Lichts zu übersetzen unmöglich ist, das heißt, das widerspenstig ist gegen die Intimität des Sich mit dem Ich, zu der alle unsere Erfahrungen zurück kehren.“

[Emmanuel Lévinas, Die Zeit und der Andere, Hamburg, 1995, S. 42/43]

Sehe-Punkte

„Das, was in der Welt geschieht, wird von verschiedenen Leuten auch auf verschiedene Art angesehen: daß, wenn viele eine Beschreibung von einer Geschichte machen sollten, in jeder etwas Besonderes würde angetroffen werden, wenn sie sich gleich insgesamt die Sache, soviel an ihnen gelegen, richtig vorgestellt hätten. Die Ursache dieser Verschiedenheit ist teils in dem Ort und in der Stellung unseres Leibes, die bei jedem verschieden ist, teils in der verschiedenen Verbindung, die wir mit den Sachen haben, teils in unserer vorhergehenden Art zu gedenken, zu suchen, vermöge welcher dieser auf das, der andere auf jenes Achtung zu geben sich angewöhnt hat. Man glaubt zwar gemeiniglich, daß jede Sache nur eine richtige Vorstellung machen könnte, und wenn daher in den Erzählungen sich einiger Unterschied befinde, so müsse die eine ganz recht und die andere ganz unrecht haben. Allein diese Regel ist weder andern gemeinen Wahrheiten noch einer genaueren Erkenntnis unserer Seele gemäß. Wir wollen jetzo mit einem gemeinen Exempel erweisen, wie verschiedene eine einzige Sache sich auf mancherlei Art vorstellen können. Gesetzt es befinden sich bei einer vorfallenden Schlacht drei Zuschauer, davon der eine auf einem Berge zur Seite des rechten Flügels der einen Armee, der andere auf einer Höhe zur Seiten des linken Flügels, der dritte hinter derselben Armee der Schlacht zusieht. Wenn diese drei ein genaues Verzeichnis von dem, was sich bei der Schlacht zugetragen, machen sollten, so wird allen Fleißes ungeachtet keines Erzählung mit den übrigen ganz genau übereinkommen. […] Ebenso ist es mit allen Geschichten beschaffen; eine Rebellion wird anders von einem getreuen Untertanen, anders von einem Rebellen, anders von einem Ausländer, anders von einem Hofmann, anders von einem Bürger oder Bauern angesehen, wenn auch gleich jeder nichts, als was der Wahrheit gemäß ist, davon wissen sollte. Es ist zwar gewiß, daß alle wahren Erzählungen von einer Geschichte in gewissen Stücken derselben übereinkommen müssen, weil, wenn wir uns gleich gewissermaßen in verschiedenen Umständen befinden, und also auch gewisse Stücke der Geschichte nicht auf einerlei Art ansehen, wir dennoch überhaupt in den Regeln der menschlichen Erkenntnis miteinander übereinkommen. Allein wir wollen dieses behaupten, daß, wenn verschiedene Personen, auch nach ihrer richtigen Erkenntnis, eine Geschichte erzählen, in ihren wahren Erzählungen sich dennoch ein Unterschied befinden könne.“

[Johann Martin Chladenius: Von Auslegung Historischer Nachrichten und Bücher, in: Seminar: Philosophische Hermeneutik, hg. v. Hans-Georg Gadamer u. Georg Boehm, Frankfurt/M. 1976]

Realität der Massenmedien

„Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien. Das gilt nicht nur für unsere Kenntnis der Gesellschaft und der Geschichte,  sondern auch für unsere Kenntnis der Natur. Was wir über die Stratosphäre wissen, gleicht dem, was Platon über Atlantis weiß: Man hat davon gehört. Oder wie Horatio es ausdrückt: So I have heard, and do in part believe it. Andererseits wissen wir so viel über die Massenmedien, daß wir diesen Quellen nicht trauen können. Wir wehren uns mit einem Manipulationsverdacht, der aber nicht zu nennenswerten Konsequenzen führt, da das den Massenmedien entnommene Wissen sich wie von selbst zu einem selbst verstärkenden Gefüge zusammenschließt. Man wird alles Wissen mit dem Vorzeichen des Bezweifelbaren versehen – und trotzdem darauf aufbauen, daran anschließen müssen.“
[Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, Opladen, 1996, S.9/10]

Politik: eine selbstgeschaffene Wirklichkeit

„Schon jetzt hat die Politik es ständig mit sebstgeschaffenen Wirklichkeiten zu tu. Die Bedürfnisse, die Unerfreulichkeiten, die fast unlösbaren Probleme, denen sie sich gegenüber gestellt sieht, sind zum Teil ihr eigenes Werk. Man denke nur an das Thema Bürokratie. Daraus muß, über kurz oder lang, ein gebrochenes Verhältnis zu den eigenen Zielen folgen.

Die Politik hilft sich in dieser Situation mit relativer Kurzfristigkeit der Kalküle, der Zeithorizonte, der Zielsetzungen. Allgemein verkürzt sich in hochkomplexen Gesellschaften vermutlich der für das Handeln relevante Zeithorizont, weil die Verhältnisse für längerfristige Planung zu komplex sind. Der Politik ist außerdem durch den kurzfristigen Rhythmus der Wahlen eine eigene Zeitstruktur auferlegt. Bei kurzen Zeithorizonten können zahlreiche Interdependenzen ignoriert werden. Sie treten nicht in Erscheinung. Im Blick auf die Vergangenheit kann man vernachlässigen, daß man die Probleme mit genau den Prinzipien erzeugt hat, denen man weiterhin zu folgen gedenkt. Und man kann in Bezug auf die Zukunft hoffen, daß die weitläufigen und unübersehbaren Folgen der Jetztzeitplanung im Rahmen des Kontrollierbaren bleiben werden. Kurze Zeithorizonte entlasten das Handeln, und dieser Vorteil ist nicht gering zu veranschlagen.“

[Niklas Luhmann, Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, München, 1981, S.10 und 11]

 

gegen fruchtlosen Fatalismus

„Die Sonne geht auf? Und trotzdem wird sie untergehen. Die Nacht kündigt Verzweiflung an? Trotzdem wird auch sie vorübergehen und nie mehr wiederkommen. Wichtig ist, nicht aufzugeben, sich keinem fruchtlosen Fatalismus zu überlassen. König Salomo, der große Pessimist, hat es treffend gesagt: ‚Die Tage kommen, die Tage gehen. Eine Generation geht, eine andere kommt und wird wieder durch die nächste abgelöst. Nur die Erde besteht weiter, die Sonne geht auf, die Sonne geht unter…, was war, wird sein…‘ Soll man folglich die Zeit anhalten? Und den Lauf der Sonne? Manchmal muß man es versuchen. Selbst wenn es vergeblich ist? Auch dann. Manchmal ist es unsere Aufgabe, etwas zu versuchen, gerade weil es vergeblich ist. Weil am Ende des Weges der Tod auf uns wartet, müssen wir aus vollen Zügen leben. Weil ein Geschehen uns sinnlos erscheint, müssen wir ihm einen Sinn geben. Weil wir unsere Zukunft nicht in den Händen halten, müssen wir sie schaffen.“

Elie Wiesel, „Alle Flüsse fließen ins Meer. Autobiographie“, Hamburg, 1995, S. 30/31

zeitgemäßer Geiz

„Zeitgemäß ist der Geizige, dem nichts für sich und alles für die andern zu teuer ist. Er denkt in Äquivalenten, und sein ganzes Privatleben steht unter dem Gesetz, weniger zu geben als man zurückbekommt, aber doch stets genug, daß man etwas zurückbekomme. Jeder Freundlichkeit, die sie gewähren, ist die Überlegung: ‚ist das auch nötig?‘ , ‚muß man das tun?‘ anzumerken. Ihr sicherstes Kennzeichen ist die Eile, für empfangene Aufmersamkeiten sich zu ‚revanchieren‘, um nur ja in der Verkettung der Tauschakte, bei denen man auf seine Kosten kommt, keine Lücke entstehen lassen. Weil bei ihnen alles rational, mit rechten Dingen zugeht, sind sie, anders als Harpagon und Scrooge, nicht zu überführen und nicht zu bekehren. Ihre Liebenswürdigkeit ist ein Maß ihrer Unerbittlichkeit.“

[Theo­dor W. Ador­no in „Mi­ni­ma Mo­ra­lia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben“ – Text aus dem 15. Apho­ris­mus, Frankfurt a. Main, 2001, S.49]

Umtausch nicht gestattet

„Die Men­schen ver­ler­nen das Schen­ken. Der Ver­let­zung des Tausch­prin­zips haf­tet etwas Wi­der­sin­ni­ges und Un­glaub­wür­di­ges an; da und dort mus­tern selbst Kin­der miß­trau­isch den Geber, als wäre das Ge­schenk nur ein Trick, um ihnen Bürs­ten oder Seife zu ver­kau­fen. Dafür übt man cha­ri­ty, ver­wal­te­te Wohl­tä­tig­keit, die sicht­ba­re Wund­stel­len der Ge­sell­schaft plan­mä­ßig zu­klebt. In ihrem or­ga­ni­sier­ten Be­trieb hat die mensch­li­che Re­gung schon kei­nen Raum mehr, ja die Spen­de ist mit De­mü­ti­gung durch Ein­tei­len, ge­rech­tes Ab­wä­gen, kurz durch die Be­hand­lung des Be­schenk­ten als Ob­jekt not­wen­dig ver­bun­den. Noch das pri­va­te Schen­ken ist auf eine so­zia­le Funk­ti­on her­un­ter­ge­kom­men, die man mit wi­der­wil­li­ger Ver­nunft, unter sorg­fäl­ti­ger In­ne­hal­tung des aus­ge­setz­ten Bud­gets, skep­ti­scher Ab­schät­zung des an­de­ren und mit mög­lichst ge­rin­ger An­stren­gung aus­führt. Wirk­li­ches Schen­ken hatte sein Glück in der Ima­gi­na­ti­on des Glücks des Be­schenk­ten. Es heißt wäh­len, Zeit auf­wen­den, aus sei­nem Weg gehen, den an­de­ren als Sub­jekt den­ken: das Ge­gen­teil von Ver­geß­lich­keit. Eben dazu ist kaum einer mehr fähig. Güns­ti­gen­falls schen­ken sie, was sie sich sel­ber wünsch­ten, nur ein paar Nu­an­cen schlech­ter. Der Ver­fall des Schen­kens spie­gelt sich in der pein­li­chen Er­fin­dung der Ge­schenk­ar­ti­kel, die be­reits dar­auf an­ge­legt sind, daß man nicht weiß, was man schen­ken soll, weil man es ei­gent­lich gar nicht will. Diese Waren sind be­zie­hungs­los wie ihre Käu­fer. Sie waren La­den­hü­ter schon am ers­ten Tag.

Ähn­lich der Vor­be­halt des Um­tauschs, der dem Be­schenk­ten be­deu­tet: hier hast du dei­nen Kram, fang damit an, was du willst, wenn dir’s nicht paßt, ist es mir ei­ner­lei, nimm dir etwas an­de­res dafür. Dabei stellt ge­gen­über der Ver­le­gen­heit der üb­li­chen Ge­schen­ke ihre reine Fun­gi­bi­li­tät auch noch das Mensch­li­che­re dar, weil sie dem Be­schenk­ten we­nigs­tens er­laubt, sich sel­ber etwas zu schen­ken, worin frei­lich zu­gleich der ab­so­lu­te Wi­der­spruch zum Schen­ken ge­le­gen ist.

Ge­gen­über der grö­ße­ren Fülle von Gü­tern, die selbst dem Armen er­reich­bar sind, könn­te der Ver­fall des Schen­kens gleich­gül­tig, die Be­trach­tung dar­über sen­ti­men­tal schei­nen. Selbst wenn es je­doch im Über­fluß über­flüs­sig wäre – und das ist Lüge, pri­vat so gut wie ge­sell­schaft­lich, denn es gibt kei­nen heute, für den Phan­ta­sie nicht genau das fin­den könn­te, was ihn durch und durch be­glückt –, so blie­ben des Schen­kens jene be­dürf­tig, die nicht mehr schen­ken. Ihnen ver­küm­mern jene un­er­setz­li­chen Fä­hig­kei­ten, die nicht in der Iso­lier­zel­le der rei­nen In­ner­lich­keit, son­dern nur in Füh­lung mit der Wärme der Dinge ge­dei­hen kön­nen. Kälte er­greift alles, was sie tun, das freund­li­che Wort, das un­ge­spro­chen, die Rück­sicht, die un­ge­übt bleibt. Sol­che Kälte schlägt end­lich zu­rück auf jene, von denen sie aus­geht. Alle nicht ent­stell­te Be­zie­hung, ja viel­leicht das Ver­söh­nen­de am or­ga­ni­schen Leben sel­ber, ist ein Schen­ken. Wer dazu durch die Logik der Kon­se­quenz un­fä­hig wird, macht sich zum Ding und er­friert.“

[Theo­dor W. Ador­no in „Mi­ni­ma Mo­ra­lia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben“ – 21. Apho­ris­mus, Frankfurt a. Main, 2001, S.64-66]