doppelte Welt

„Man lebt sozusagen in einer doppelten Welt: über der Welt der Fakten liegt, ohne daß diese damit aufgehoben würde, eine zweite Welt, die Welt der Bedeutungen. Möglich und wahr wird eine solche Interpretation unter der Voraussetzung, daß Gott bei der Schöpfung diese Bedeutungen in die Dinge gelegt hat bzw. daß er die Geschichte so lenkt, daß sie auf das Heilsgeschehen verweist. Doch diesen Sinn aufzudecken, dazu bedarf es im Prinzip der Inspiration durch den Heiligen Geist. Der Anruf an den Heiligen Geist, der für die Einleitungen zu diesen moralisch-allegorischen Dichtungen charakteristisch ist, muß, so topisch er klingen mag, als ihr eigentlicher theoretischer Angelpunkt angesehen werden. Und in diesem Bezug ist selbstverständlich der Hörer als dritte Größe mitgesetzt, denn auch er versteht die Sinngebung im Prinzip nur, wenn er sich vom Prozeß der Interpretation der Welt auf das Heilsgeschehen hin erfassen läßt: Verstehen heißt hier ja nicht ein bloß unverbindliches Spiel mit Bedeutungen, es heißt vielmehr Betroffensein von der Allgegenwart des göttlichen Weltplans.“

[Walter Haug in seinem Essay „Schriftlichkeit und Reflexion“, in dem Haug die Entwicklung  eines deutschsprachigen Schrifttums im Mittelalter beschreibt, aufgezeichnet in Assmann/Hardmeier, Schrift und Gedächtnis, 1983].

 

Der ausgewählte Abschnitt bezieht sich auf die volkssprachliche Schriftentwicklung im 11. Jahrhundert und deren enge Verbindung mit geistlichen Inhalten.