„Die Wandlung des Buchs von einem Verweis auf die Welt zu einem Verweis auf den Verstand läßt sich auf zwei verschiedenartige, aber dennoch verwandte Neuerungen zurückführen; einerseits auf die Entwurzelung des Textes von den Manuskriptseiten und andererseits auf die Loslösung des Buchstabens aus seiner Jahrtausende alten Dienstbarkeit für das Lateinische.
Man konnte den Text seitdem als etwas vom Buch vollkommen Getrenntest sehen. Er wird zu einem Gegenstand, der auch mit geschlossenem Auge visualisiert werden kann.
…
Die Seite hat nicht mehr die Eigenschaft eines Ackers, in dem die Buchstaben verwurzelt sind. Der neue Text ist ein Gespinst auf den Seiten des Buchs, das in ein eigenständiges Dasein abhebt. Dieser neue Text hat zwar eine materielle Existenz, aber nicht die Existenz gewöhnlicher Dinge; er ist weder hier noch dort. Nur sein Schatten erscheint auf der Seite dieses oder jenes konkreten Buchs. Daraus folgt, daß das Buch nicht mehr das Fenster zu Welt oder zu Gott ist; es ist nicht mehr die durchscheinende optische Einrichtung, mittels derer der Leser einen Zugang zur Schöpfung findet. Soweit es noch ein optisches Instrument bleibt, hat sich das Buch um 180 Grad gedreht, so, als wäre eine konvexe durch eine konkave Linse ersetzt worden.
Aus dem Symbol für kosmische Wirklichkeit ist ein Symbol für das Denken hervorgegangen. Statt des Buchs wird jetzt der Text zum Gegenstand, in dem Gedanken gesammelt und gespiegelt werden.“
[Ivan Illich, „Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand“, 1991 aus dem Englischen von Ylva Eriksson-Kuchenbuch]