Leben mit „i“

„Aber wenn auch eine bestimmte Lebensqualität Bedingung dafür sein kann, das Leben zu lieben, so ist es doch nicht diese Qualität, was wir lieben, sondern das Leben selbst. Wer das als erster präzise beschrieben hat, war Rousseau, wenn er in diesem Zusammenhang vom „sentiment de I’existence“ sprach, von dem Gefühl der Existenz.

Man kann sich diesen Sachverhalt am besten wieder klarmachen am Beispiel der Liebe. Wir würden nicht beginnen, einen Menschen zu lieben, ohne dass er bestimmte Qualitäten besäße, körperliche, seelische oder geistige Qualitäten, durch die hindurch er sich uns präsentiert. Aber es wäre ganz falsch zu sagen, wir liebten ihn wegen dieser Qualitäten, oder es seien eigentlich diese Qualitäten, die wir lieben. Wer nämlich wirklich liebt oder wirklich jemandes Freund ist, der kann auf die Frage, warum er diesen Menschen liebt oder was er an ihm liebt, in der Regel gar nicht wirklich antworten. Eine Person lieben wir zwar nicht ohne bestimmte Qualitäten, aber eine Person lieben heißt nicht, etwas lieben, sondern jemanden in dieser numerischen Identität. Dieser „Jemand“, dieses bestimmte, einmalige und unwiederholbare Leben ist uns, wenn wir lieben, wirklich geworden und damit Gegenstand einer bedingungslosen Zustimmung zu seinem Dasein.

Und umgekehrt liegt Glück darin, das eigene Leben als Ganzes zu empfinden und nicht nur einzelne Vorzüge und Leistungen als Gegenstand der Freude und der Zustimmung eines anderen zu wissen, zumal eines anderen, den wir selbst lieben. Lieben heißt,erfahren, dass das Leben selbst der Grund des Glückes ist und dass es keines weiteren Grundes bedarf, sondern nur der Wegräumung von Hindernissen, die dieser Erfahrung im Wege stehen und die Aufmerksamkeit ablenken. Die Musik findet immer schon statt. Glück besteht darin, dass die Ohren geöffnet werden. Dazu allerdings muss man wieder Glück haben.“

[Robert Spaemann in „Die Zweideutigkeit des Glücks“, 2005]