repose – oder die Kunst, demütig ohne nachgiebig zu sein

ZEIT: „Sie hatten im Urwald zwei Bücher, die Bibel und die Enzyklopädie Le Grand Larousse. Wie hätten Sie sich entschieden, wenn die Rebellen Sie gezwungen hätten, zwischen diesen Büchern zu wählen?“

Betancour: „Ich weiß nicht. Der Larousse half mir, eine Brücke zu finden zu den Dingen des Lebens, die ich verloren hatte. Die Bibel las ich immerzu, ich vertiefte mich in die einzelnen Kapitel. Jetzt, wo Sie fragen, verstehe ich, dass ich nur durch Sprache, durch das Wort, überlebt habe.“

ZEIT: „Waren Sie vorher religiös?“

Betancour: „Ich dachte, dass es Gott vermutlich gäbe. Im Urwald habe ich vestanden, dass wir durch Gottes Gnade leben.“

ZEIT: „Wie haben Sie das erlebt?“

Betancour: „Als – repose. Verstehen Sie? Ich kann es nur auf Französisch sagen – repose wie <Ruhe>.

ZEIT: Sie hätten Anlass gehabt, zu denken, dass Gott Sie strafen wollte für den Übermut, nach den Sternen zu greifen. Erste Präsidentin Kolumbiens!“

Bentacour: „Das habe ich lange gedacht. Ich habe mit Gott gerechtet. Gewütet. Dann habe ich verstanden, dass man demütig sein muss.“

ZEIT: „Aber nicht auch die andere Wange hinhalten?“

Bentacour: „Auch darüber habe ich nachgedacht. In dieser Haltung liegt keine Nachgiebigkeit. Sie wächst aus der Stärke der Einsicht, dass nichts, was jemand tut, einen mehr verletzen kann.“

 

[aus dem ZEIT-Interview der Ausgabe vom 23.9.2010 mit der Politikerin Ingrid Bentacourt, die von 2002-2008 in Geiselhaft im kolumbianischen Urwald lebte]