„Lesebemühungen“ und Liebe

„Ohne Zweifel ist ein täuschendes Bewußtsein auf seine Weise allmächtig, da niemand Einfluß auf die unerschöpfliche Tiefe der persönlichen Vergangenheit hat. In jeder Einsamkeit erkenne ich folglich eine unendliche und nahezu übernatürliche Kraft, eine Geheimhaltungskraft, stärker als der Tod […]

Alles läßt sich sagen, wenn nicht gar machen, denn wenn man, dem Determinismus zuwider, auch keinen Einfluß auf die physische Welt hat, so steht doch die Sprache selbst zu unserer selbstherrlichen Verfügung und ist uns auf Gnade und Ungnade vollkommen ausgeliefert… Wo wird der Lügner innehalten? Wer kann ihn daran hindern, sich seiner falschen Klaviatur zu bedienen und die Handhabung der Zeichen nach Gutdünken zu verdrehen? Dies ist ein Spiel, bei dem jeder von uns ein souveräner Gebieter ist. […]

Die Wörter sind von Natur aus disponibel, und man kann sie ungestraft mißbrauchen, ohne daß sie Schaden nehmen; wenn man am Telefon lügt, gibt es keinen Kurzschluß, und der Strom fließt für die Lügen ebenso wie für die Wahrheit. Diese Straffheit, diese Gleichgültigkeit der >immanenten Gerechtigkeit< welche die Pessismisten von jeher als Argument gegen die VORSEHUNG und die Theodizee benutzen, definieren sie nicht im Gegenteil unsere Verantwortlichkeit als Menschen? [...] Der Lügner kann sich noch so sehr verkleiden, er kann gar nicht anders, als durch seinen Verkleidungen selbst eine bestimmte Art der Wahrheit abzubilden: die Wahrheit der Lüge, die genauso unvermeidbar ist wie die Intelligibilität des Absurden oder die Ordnung der Unordnung, die zwangsläufige Wahrheit, die sich unter den listen, die sie entstellen, unablässig wiederherstellt. Letzten Endes ist der Lügner wohl, was er ist, obgleich er nicht das ist, was er vorgibt zu sein. [...] Welches Bewußtsein wird als erstes ermüden, das betrügerische, das seine Buchstabenrätsel immer weiter kompliziert, oder das detektivische, das sie eines nach dem anderen durchkreuzt? Man suche nicht länger: Es gibt nur die Liebe, der das letzte Wort gebührt; die Liebe allein ist fähig, die ganze indefinite Reihe der reflexiven Begrenzungen auf einmal zu umfassen und durch eine erschöpfende Intuition jene Kontinuität der Zeit zu erfassen, auf die die Person begrenzt ist. Dies ist das >non plus ultra< des hochverfeinerten Zurückgreifens, die wahre synthetische Gnosis, die sich gleichzeitig der Wahrheit, der Lüge und ihrer selbst bewußt ist. Sogar wenn er ausgenutzt wird, genarrt und verraten, ist der Wohltäter nie der Geprellte." [Vladimir Jankélévitch, Das Verzeihen. Essays zur Moral und Kulturphilosophie, Frankfurt, 2003, S. 103-108]