„Wenn ich nun nicht klar und deutlich genug erfasse, was wahr ist, so ist klar, daß ich recht daran tue und mich nicht täusche, wenn ich mich des Urteils enthalte; daß ich aber von meiner Freiheit nicht den richtigen Gebrauch mache, wenn ich irgend etwas behauptete oder leugnete. Wendete ich mich der falschen Seite zu, so irrte ich mich völlig, wählte ich aber die andere, so träfe ich zwar zufällig auf die Wahrheit, wäre aber darum nicht von Schuld frei, da ja das natürliche Licht augenscheinlich macht, daß die Verstandeserkenntnis stets der Willensbestimmung vorhergehen muß. Und in diesem unrichtigen Gebrauche meiner Wahlfreiheit liegt der Mangel, welcher den Begriff des Irrtums ausmacht…
Und außerdem, wenn ich mich auch nicht auf die erste Art von Irrtum bewahren kann, die nämlich eine klare Einsicht in all das voraussetzt, was zu erwägen ist, so kann ich es doch auf die zweite, die nur vorraussetzt, sich gegenwärtig zu halten, daß man sich des Urteils enthalten soll, sooft nicht klar ist, wie es mit einer Sache in Wahrheit bestellt ist. Denn zwar bin ich mir meiner Schwäche bewußt, nicht stets bei einer und derselben Erkenntnis beharren zu können; dennoch kann ich durch aufmerksames und häufig wiederholtes Nachdenken bewirken, daß ich mich ihrer, sooft es nötig ist, erinnere und mir so eine gewisse Gewohnheit, nicht zu irren, erwerbe.“
[René Descartes, Meditationes de prima philosophia (lateinisch-deutsch), Hamburg, 1959, S. 109 und 113]