Autrui

Der andere, insofern er anderer ist, ist nicht nur ein alter ego; er ist das, was ich gerade nicht bin. Er ist es nicht aufgrund seines Charakters oder seiner Physiognomie oder seiner Psychologie, sondern aufgrund seiner Andernheit selbst. Er ist zum Beispiel der Schwache, der Arme, >>die Witwe und die Waise<<, während ich der Reiche oder Mächtige bin. Man kann sagen, daß der intersubjektive Raum nicht symmetrisch ist. Das Außerhalb des andern verdankt sich nicht einfach dem Raum, der trennt, was dem Begriff nach identisch bleibt, oder irgendeiner begrifflichen Differenz, die sich durch das räumliche Außerhalbsein manifestieren würde. Das Verhältnis der Anderheit ist weder räumlich noch begrifflich. Durkheim hat das Spezifische des anderen verkannt, wenn er fragt, inwiefern der andere eher als ich selbst das Objekt einer tugendhaften Aktion ist. Rührt der wesentliche Unterschied zwischen der Liebe und der Gerechtigkeit nicht von der Bevorzugung des anderen durch die Liebe her, während doch vom Gesichtspunkt der Gerechtigkeit aus überhaupt keine Bevorzugung möglich ist? [Emmanuel Lévinas, Die Zeit und der Andere, Hamburg, 1989, S. 55]