„Das Wertgefühl der Zivilisierten entsteht aus einem Wechselspiel zwischen der Beobachtung des Selbst und der Aufmerksamkeit auf die Reaktionen Anderer, die sich auf unterschiedlichste Weise zu den Zivilisierten hin orientieren. Dabei ist den Zivilisierten eine fortwährende Bedrohung der eigenen Errungenschaften bewusst. Ein Barbarensturm oder ein Aufstand plebejischer „innerer Barbaren“ könnte sie jederzeit ruinieren, und eine noch größere, da schwerer erkennbare Gefahr bildet das Erlahmen von moralischer Anstrengung, kulturellem Leistungswillen und wirklichkeitsbezogener Umsicht. In China, in Europa und andernorts hat man dies traditionell in der Vorstellung der „Korruption“ in einem weiten Sinne gefasst: Dem Nachlassen schicksalhaften Glücks (fortuna) entsprach das Versiegen der Kraft hohen Idealen zu genügen.
So ist „Zivilisation“ in dem normativen Sinn gesellschaftlicher Verfeinerung eine universale Vorstellung, die zeitlich nicht auf die Moderne eingeschränkt ist. Häufig verbindet sie sich damit die Idee, die Zivilisierten hätten die Aufgabe oder gar die Pflicht, ihre kulturellen Werte und ihren way of life zu verbreiten. Dies kann aus unterschiedlichen Gründen geschehen: um die barbarische Umgebung zu befrieden, um eine als allein wahr empfundene Lehre zu propagieren, oder schlichtweg, um den Barbaren Gutes zu tun. Aus solch unterschiedlichen Motivationsquellen wird die Idee der „Zivilisierungsmission“ gespeist. „Mission“ muss dabei nicht auf die Verbreitung eines religiösen Glaubens beschränkt sein. Vielmehr ist ein umfassendes Sendungsbewusstsein gemeint, die Selbstbeauftragung damit, die eigenen Normen und Institutionen an Andere heranzutragen oder gar ihre Übernahme mit mehr oder minder sanftem Druck zu erzwingen. Dies setzt eine feste Überzeugung von der Höherwertigkeit der eigenen Lebensform voraus.“
[Jürgen Osterhammel, „Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts“, München, 2009, S. 1172 und 1173]