ὀρθό – δόξ

„Indem das Christentum die wahre Lehre zu verkündigen beanspruchte und sich dabei sogar auf den philosophischen Diskurs einließ, löste es eine Bewegung aus, die der Antike bis dahin unbekannt gewesen war und vielfach sogar befremdlich wirkte: den Streit um die rechte Lehre. In der religiösen Antike gab es ‚keine Polemik zwischen den Anhängern verschiedener Richtungen‘ (H. Dörrie). Denn die antiken Religionsgemeinschaften verstanden sich als Gruppe religiöser Praxis und einer Gottesverehrung, der viele Weisen und Wege offenstanden. Der Gedanke an eine verbindliche und einzig wahre Religionslehre wurde nicht erhoben, weswegen auch eine lehrmäßige Tradition oder ein ‚Religionsunterricht‘ unbekannt waren. Der Anspruch der Christen auf Wahrheit ihres Glaubens, den sie mit Hilfe philosophischer Begrifflichkeit zur Geltung zu bringen suchten, hatte zur Folge, daß man sich zunächst einmal innerkirchlich über die rechte Lehre einig werden mußte. Je mehr aber die Christen selber das Wesen ihres Glaubens dogmatisch zu klären suchten, desto stärker verstrickten sie sich in eigene Glaubenskämpfe: Polemik, ungezügelte Aggressionen, parteilicher Gruppenegoismus, Verweigerung der Gemeinschaft, Ächtung des Gegners – das alles bestimmte allzuoft das Kirchenleben, widersprach aber aufs tiefste der christlichen Bruderliebe und dem Geist des Verzeihens.“

[Arnold Angenendt, Das Frühmittelalter (3. Auflage), Stuttgart, 2001, S.60/61]