Der Feind

„Gegenbegriffe sind geeignet, die Selbstbestimmung einer Handlungseinheit, das „Wir“ gegen die anderen nicht nur zu artikulieren, sondern als Unterscheidungsmerkmal festzuschreiben. Dahinter lauert die Feindschaft. Die Barbaren, die stammelnden Fremden waren längst auf diesen Begriff gebracht wordn, bevor die Hellenen, unter diesem Namen zusammenfanden. Fremd- und Selbstbestimmung haben sich gegenseitig evoziert. […]
Was historisch je einmalig die Erfahrung prägte, wiederholte sich strukturell noch und noch. Die semantische Opposition zwischen Griechen und Barbaren wird mit neuen Namen besetzt – die Barbaren bleiben. Ob es die Normannen, die Ungarn, die Tataren, die Türken, die Indianer, die Russen oder die Deutschen sind, die Struktur der Gegenbegriffe ist übertragbar. […]
Die Gegenbegriffe verschärfen sich, und damit komme ich zu einem neuen Feindbegriff, seit der Einführung des Christentums. Der Nichtchrist verfällt der Verdammnis, nur der Christ hat Aussicht, vielleicht sogar die Gewißheit, dereinst vom Übel dieser Welt erlöst zu werden. Damit rücken die Zwangsalternativen in eine zeitliche Fluchtlinie. Es gibt die Noch-nicht-Christen: die Pagani, die Heiden, die Juden, aber auch die Hellenen wie die Barbaren zugleich, sie alle sind Adressaten der Mission. […]
Wer könnte verkennen, daß auch das verzeitlichte Oppositionspaar, einmal auf den Begriff gebracht, übertragbar ist. Die moderne Revolution zur Abschaffung aller Herrschaft und der neuzeitliche Krieg zur Beseitigung aller Kriege enthalten eine eschatologische Gewißheit des Heils, die allen weltlichen Selbstdeutungen zum Trotz ohne den christlichen Vorlauf nicht denkbar sind.
Aber unsere Neuzeit brachte noch eine weitere Radikalisierung der Feindbegriffe mit sich. Seitdem die Menschheit als autonome Letztinstanz an die Stelle Gottes trat, zum Subjekt und Objekt ihrer eigenen Geschichte erhoben wurde, rückte auch der Feind in neue Begriffsfelder ein.
Der Feind des Menschenn ist dann nicht der Mensch, sondern der Unmensch oder noch radikaler dem Übermenschen der Untermensch. Gewiß steht der Unmensch als Begriff schon der Stoa zur Verfügung, ein Tyrann sei als Unmensch zu beseitigen, er diente auch den Christen zur Stigmatisierung der Ketzer, und er sich selbst wohlgefällige Christ mochte schon als Übermensch  entlarvt werden.
Aber die Verwendung des Oppositionsbestimmungen: Mensch – Unmensch, Übermensch – Untermensch radikalisiert die Feindschaft in sprachlich zuvor gar nicht begreifbarer Weise. Der Barbar war noch natural oder territorial radizierbar, der Heide oder Ketzer war noch theologisch ausgrenzbar. Wer Hellene war oder Christ, ließ sich auch durch eine Selbstbestimmung identifizieren.  […] Und der Untermensch steht vollends im Belieben dessen, der sich per negationem des Anderen selber als Übermenschen etabliert. Es handelt sich also um ideolgoisch verschieden besetzte Leerformeln, in die hineindefiniert zu werden dem Anderen die letzte Chance raubt, auch nur ein Feind zu sein. Er wird unter die Schwundstufe menschlicher Möglichkeiten gedrückt, im wörtlichen Sinn entmenschlicht, zur potentiellen Nichtexistenz, >lebensunwert< und so vertilgt.“

[Reinhard Koseleck, „Begriffsgeschichten. Studium zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache“, Frankfurt/Main, 2006, S. 276-279]