„Ich wollte nicht gehören zu ihnen, den gläubigen Kameraden, aber ich hätte mir gewünscht, zu sein wie sie, unerschütterlich, ruhig, stark. Was ich damals zu begreifen glaubte, erscheint mir immer noch als Gewißheit: Der im weitesten Sinne gläubige Mensch, sei sein Glaube ein metaphysischer oder ein immanenzgebundener, überschreitet sich selbst. Er ist nicht der Gefangene seiner Individualität, sondern gerhört einem geistigen Kontinuum an, das nirgends, und auch in Auschwitz nicht, unterbrochen wird. Er ist zugleich wirklichkeitsfremder und wirklichkeitsnäher als der Glaubenslose. Wirklichkeitsfremder, da er doch in seiner finalistischen Grundhaltung die gegebenen Realitätsinhalte links liegen läßt und darum seinerseits kraftvoll auf sie einwirken kann. Dem glaubensfreien Menschen ist die Wirklichkeit im schlimmen Fall eine Gewalt, der er sich überläßt, im günstigen ist sie ihm Material für die Analyse. Dem Gläubigen ist sie Ton, den er formt Aufgabe, die er löst.“
[Jean Améry in „Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten“, Stuttgart, 1977, S. 39]