lesen können

„Schlägt man die Bibel auf, stößt man schnell auf Vertrautes, und selbst wenn man sie nicht aufschlägt, meint man doch wenigstens ungefähr zu wissen, worum es geht. Schaut man aber genauer hin, so findet man Mehr, Anderes und Überraschendes. Das fängt schon an, wenn man von den bekannten Stellen ein  Stück vor- oder zurückblättert und etwa nach dem triumphalen Durchzug durch das Rote Meer plötzlich auf das gegen Gott murrende Volk Israel stößt. Aber auch die vertrauten Geschichten erweisen sich bei näherem Hinsehen oft als recht rätselhaft: Eigentlich geht es in ihnen nie so einfach zu, wie man es in Erinnerung hatte, oder die Einfachheit ist selbst bemerkenswert, ja staunenswert, wenn man sie unbefangen ansieht. Wenn man sich mit ihnen beschäftigt, reicht es daher nicht aus, zu wiederholen, was sie sagen oder was man über sie weiß, man muss auch beschreiben, wie sie sagen, was sie sagen: man muss sie lesen können.“

[Daniel Weidner in „Einleitung: Zugänge zum Buch der Bücher“ in „Bibel als Literatur“ hg. von Hans-Peter Schmidt und Daniel Weidner, München, 2008, S. 7]