Der Vorteil von Schubladen und Etiketten

„Es ist falsch, absurd und schmerzlich, wenn irgendjemand behauptet, dass diejenigen, die Kritik am israelischen Staat üben, antisemitisch oder, falls jüdisch, voller Selbsthass seien.

Man versucht, diejenigen, die eine kritische Auffassung vorbringen, zu dämonisieren und so ihre Sichtweise zu diskreditieren. Es handelt sich um eine Taktik, die darauf abzielt, Menschen zum Schweigen zu bringen: Was immer man sagt, es ist von vornherein abzulehnen oder so zu verdrehen, dass die Triftigkeit des Sprechakts geleugnet wird. Mit dieser Art von Vorwurf weigert man sich, die kritische Sichtweise zu erörtern, ihre Gültigkeit zu diskutieren, ihre Belege zu prüfen und zu einer vernünftig begründeten Schlussfolgerung zu kommen. Der Vorwurf ist nicht nur ein Angriff auf Menschen mit Ansichten, die manche verwerflich finden, sondern auch ein Angriff auf den vernünftigen Austausch an sich.

Wenn eine Gruppe Juden eine andere Gruppe Juden als „antisemitisch“ bezeichnet, dann versucht sie, das Recht, im Namen der Juden zu sprechen, zu monopolisieren. …“

[Judith Butler, Anwärterin auf den diesjährigen Adorno-Preis der Stadt Frankfurt in ihrer Antwort auf ihre Kritiker, am 29.8.2012 übersetzt und veröffentlicht in der ZEIT, vollständig lesbar unter http://www.zeit.de/kultur/literatur/2012-08/judith-butler-kritik-israel-antwort]