Wir leben mühelos mit tausenderlei ungelösten Rätseln

„Die Leute wollen nicht mehr wissen, warum irgendwas passiert ist, nur, dass es passierte und dass die Welt voller Leichtsinn, Gefahr, Bedrohung und Unglück ist, die unsereins nur streifen, dagegen die unachtsamen, vielleicht nicht auserwählten Mitmenschen ereilen und umbringen. Wir leben mühelos mit tausenderlei ungelösten Rätseln, die uns morgens zehn Minuten beschäftigen und dann vergessen werden, ohne Unbehagen, ohne die geringste Spur zu hinterlassen.

Wir spüren die Notwendigkeit, uns in nichts mehr zu vertiefen, uns mit keinem Vorfall, keiner Geschichte länger aufzuhalten, unsere Aufmerksamkeit soll immer weiterhüpfen, sie will immer neues fremdes Unglück, als dächten wir bei jedem Einzelnen: ‚Natürlich, wie grauenvoll. Weiter. Welchen Schrecken sind wir noch entkommen? Wir müssen uns täglich als Überlebende, als Unsterbliche fühlen, den anderen zum Trotz, also her mit neuen Gräueln, die gestrigen haben wir schon verbraucht.'“

 

[Javier Marias im Roman „Die sterblich Verliebten“, aus dem Spanischen übersetzt von Susanne Lange, Frankfurt/Main, 2012, S. 46]