Der Wahrnehmungskäfig

„Ich war zunehmend verwirrt: Nicht nur dass sich dieselben Fakten der verschiedenen Konflikte in dieser Weltgegend aus arabischer Perspektive zu komplett anderen Bildern zusammensetzten – offensichtlich war das, was uns im nachchristlichen Abendland als Meinungsvielfalt erschien, nur ein sehr begrenzter Ausschnitt aus einem viel größeren Spektrum der Weltanschauungsmöglichkeiten. Es gab fundamental andere Positionsbestimmungen des Menschen in Raum und Zeit, die trotzdem in sich schlüssig waren. Zugleich merkte ich, wie sehr all diese Sichtweisen, einschließlich meiner eigenen, durch Medien und Meinungsmacher des jeweiligen Kulturraums geformt waren. Der Blick auf politische Ereignisse, religiöse und soziale Strukturen bewegte sich hier wie dort im Rahmen der Beschreibungsmuster und Deutungskonzepte, mittels derer sich unsere jeweiligen Gesellschaften tagaus, tagein ihrer Leitlinien vergewisserten. Diese Leitlinien bildeten das Gestänge des Wahrnehmungskäfigs, in dem jeder eingeschlossen war. Selbst wenn ich sah, dass es um mich herum andere Käfige gab, konnte ich aus meinem doch nicht heraus. Immer seltener war ich imstande, zu glauben, dass ich einfach mal recht hatte, dass es recht und unrecht überhaupt gab – von „der Wahrheit“ ganz zu schweigen.“

[Christoph Peters im Artikel Kairoer Aufklärung der Zeit-Sonderbeilage „Zeit-Reisen“ Nr. 10 vom März 2010. Peters beschreibt die bleibenden Eindrücke einer Reise zum Verwandtenbesuch in Ägypten im Jahr 1993.]