saper vedere

„In der gewöhnlichen Erfahrung verbinden wir die Phänomene nach Kausalitäts-. oder Finalitätskategorien. Je nachdem, ob wir uns für die theoretischen Begründungen oder die praktischen Wirkungen der Dinge interessieren, betrachten wir sie als Ursachen oder als Mittel. So verlieren wir ihre unmittelbare Erscheinung meist aus dem Blick, bis wir sie überhaupt nicht mehr direkt wahrzunehmen vermögen. Auf der anderen Seite lehrt uns die Kunst, die Dinge zu visualisieren, statt sie nur zu konzeptualisieren und unter Nützlichkeitsgesichtspunkten anzusehen. Die Kunst gewährt uns ein reiches, anschauliches, farbiges Bild der Wirklichkeit und einen tiefen Einblick in ihre formale Struktur. Es ist kennzeichnend für den Menschen, daß er nicht auf einen einzigen, spezifischen Zugang zur Wirklichkeit festgelegt ist, sondern seinen Blickwinkel selbst wählen und auf diese Weise von einer Ansicht der Dinge zu einer anderen wechseln kann.“

[Ernst Cassirer, in „Versuch über den Menschen“, übesetzt von Reinhard Kaiser, Hamburg, 2007, S. 261]