Kategorie-Archiv: 18. Jahrhundert

Sehe-Punkte

„Das, was in der Welt geschieht, wird von verschiedenen Leuten auch auf verschiedene Art angesehen: daß, wenn viele eine Beschreibung von einer Geschichte machen sollten, in jeder etwas Besonderes würde angetroffen werden, wenn sie sich gleich insgesamt die Sache, soviel an ihnen gelegen, richtig vorgestellt hätten. Die Ursache dieser Verschiedenheit ist teils in dem Ort und in der Stellung unseres Leibes, die bei jedem verschieden ist, teils in der verschiedenen Verbindung, die wir mit den Sachen haben, teils in unserer vorhergehenden Art zu gedenken, zu suchen, vermöge welcher dieser auf das, der andere auf jenes Achtung zu geben sich angewöhnt hat. Man glaubt zwar gemeiniglich, daß jede Sache nur eine richtige Vorstellung machen könnte, und wenn daher in den Erzählungen sich einiger Unterschied befinde, so müsse die eine ganz recht und die andere ganz unrecht haben. Allein diese Regel ist weder andern gemeinen Wahrheiten noch einer genaueren Erkenntnis unserer Seele gemäß. Wir wollen jetzo mit einem gemeinen Exempel erweisen, wie verschiedene eine einzige Sache sich auf mancherlei Art vorstellen können. Gesetzt es befinden sich bei einer vorfallenden Schlacht drei Zuschauer, davon der eine auf einem Berge zur Seite des rechten Flügels der einen Armee, der andere auf einer Höhe zur Seiten des linken Flügels, der dritte hinter derselben Armee der Schlacht zusieht. Wenn diese drei ein genaues Verzeichnis von dem, was sich bei der Schlacht zugetragen, machen sollten, so wird allen Fleißes ungeachtet keines Erzählung mit den übrigen ganz genau übereinkommen. […] Ebenso ist es mit allen Geschichten beschaffen; eine Rebellion wird anders von einem getreuen Untertanen, anders von einem Rebellen, anders von einem Ausländer, anders von einem Hofmann, anders von einem Bürger oder Bauern angesehen, wenn auch gleich jeder nichts, als was der Wahrheit gemäß ist, davon wissen sollte. Es ist zwar gewiß, daß alle wahren Erzählungen von einer Geschichte in gewissen Stücken derselben übereinkommen müssen, weil, wenn wir uns gleich gewissermaßen in verschiedenen Umständen befinden, und also auch gewisse Stücke der Geschichte nicht auf einerlei Art ansehen, wir dennoch überhaupt in den Regeln der menschlichen Erkenntnis miteinander übereinkommen. Allein wir wollen dieses behaupten, daß, wenn verschiedene Personen, auch nach ihrer richtigen Erkenntnis, eine Geschichte erzählen, in ihren wahren Erzählungen sich dennoch ein Unterschied befinden könne.“

[Johann Martin Chladenius: Von Auslegung Historischer Nachrichten und Bücher, in: Seminar: Philosophische Hermeneutik, hg. v. Hans-Georg Gadamer u. Georg Boehm, Frankfurt/M. 1976]

trockne, dürre und erbärmliche Welt

„… da es für mich immer wahrer wird, dass der bessere Mensch unmöglich in dieser trocknen, dürren, erbärmlichen Welt leben kann – er muß sich eine Ideenwelt erschaffen, die ihn beglückt, und dann kann er mit kaltem Auge auf alles sogenannte Glück des kleinen, sich selbst lebenden Menschen herabsehn […] – eine Seligkeit, für die jene Egoisten keinen Sinn haben, die sie nicht ahnden – o, ich habe nie so viele Kraft, so viel Mut in mir gefühlt als itzt –  aber was soll mir dies alles in Deutschland?“

Ludwig Tieck, 1792 in einem Brief an den Freund Wilhelm Heinrich Wackenroder

[zitiert nach Günzel, Klaus, „König der Romantik. Das Leben des Dichters Ludwig Tieck in Briefen, Selbstzeugnissen und Berichten“, Berlin, 1981, S. 110]

damals … heute

„Das Menschchen ist ein veränderlich Ding, das ist schon eine sehr alte Sage. – Noch vor einigen Jahren, wie konnt‘ ich da den Tag nicht erwarten, wenn eine Reise ausgemacht war, wie konnt‘ ich mehrere Nächte nicht schlafen, wie horcht‘ ich, wenn der Wagen herbeirollte, mein Herz klopfte, mir war, als müßte mich die ganze Stadt beneiden, – und jetzt bin ich gegen diese, sonst meine größte Freude so kalt. Ich erwarte ganz gelassen die Stunde der Abreise, ganz trocken überlasse ich mich der Zeit, wie sie mich von einem orte zum andern bringen will, so sehr entzückt mich keine Gegend mehr, als in meiner Kindheit, die schönsten Blüthen der Phantasie sind bei mir schon lange abgefallen.“

Ludwig Tieck 1793 in einem Brief an seinen Freund August Ferdinand Bernhardi und seine Schwester Sophie Tieck

[in Wackenroder, Wilhelm Heinrich; hg. von Littlejohns, Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, Heidelberg, 1991, S. 260]

der Ewigkeit nicht mehr bedürfen

„Ich weiß daß Ihr ebensowenig in heiliger Stille die Gottheit verehrt, als Ihr die verlassenen Tempel besucht, daß es in Euren geschmackvollen Wohnungen keine anderen Hausgötter gibt, als die Sprüche der Weisen und die Gesänge der Dichter, und daß Menschheit und Vaterland, Kunst und Wissenschaft, denn Ihr glaubt dies alles ganz umfassen zu können, so völlig von Eurem Gemüte Besitz genommen haben, daß für das ewige und heilige Wesen, welches Euch jenseit der Welt liegt, nichts übrig bleibt, und Ihr keine Gefühle habt für dasselbe und mit ihm.

Es ist Euch gelungen das irdische Leben so reich und vielseitig zu machen, daß Ihr der Ewigkeit nicht mehr bedürfet, und nachdem Ihr Euch selbst ein Universum geschaffen habt, seid Ihr überhoben an dasjenige zu denken, welches Euch schuf. Ihr seid darüber einig, ich weiß es, daß nichts Neues und nichts Triftiges mehr gesagt werden kann über diese Sache, die von Philosophen und Propheten, und dürfte ich nur nicht hinzusetzen, von Spöttern und Priestern, nach allen Seiten zur Genüge bearbeitet ist. Am wenigsten – das kann Niemandem entgehen – seid Ihr geneigt, von den Letzteren darüber etwas zu hören, welche sich Eures Vertrauens schon längst unwürdig gemacht haben, als solche, die nur in den verwitterten Ruinen des Heiligtums am liebsten wohnen, und auch dort nicht leben können, ohne es noch mehr zu verunstalten und zu verderben. Dies alles weiß ich, und bin dennoch von einer innern und unwiderstehlichen Notwendigkeit, die mich göttlich beherrscht durchdrungen zu reden, und kann meine Einladung, daß gerade Ihr mich hören mögt, nicht zurücknehmen.“

[Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Hamburg 1958, S. 1-22 via zeno.org]

Rousseaus Bekenntnisse

„Diese mit der äußersten Lebhaftigkeit des Empfindens verbundene Langsamkeit des Denkens ist mir nicht nur im Gespräch eigen, sondern auch, wenn ich allein bin und wenn ich arbeite. Die Gedanken ordnen sich in meinem Kopfe nur mit der unglaublichsten Schwierigkeit; sie schwanken dumpf darin auf und nieder und fangen an zu gären, wodurch sie mich aufregen, erhitzen und mir Herzklopfen verursachen, und inmitten dieser großen Erregung sehe ich doch nichts deutlich und würde nicht ein einziges Wort niederzuschreiben wissen. Ich muß warten. Unmerklich beschwichtigt sich dieses große Durcheinander, das Chaos klärt sich, und jedes Ding kommt, wenn auch langsam und nach einem langen und wirren Streben an seinen Platz.“

[Jean-Jacques Rousseau in „Bekenntnisse“ aus dem Französischen übersetzt von Ernst Hardt, Frankfurt.am Main/Leipzig, 1985, S. 179]

Mut und Demut

„Die Vernunft hat sich von den Täuschungen der Sinne und von einer betrüglichen Sophistik gereinigt, und die Philosophie selbst, welche uns zuerst von ihr abtrünnig machte, ruft uns laut und dringend in den Schoß der Natur zurück – woran liegt es daß wir noch immer Barbaren sind?

Es muss also, weil es nicht in den Dingen liegt, in den Gemütern der Menschen etwas vorhanden sein, was der Aufnahme der Wahrheit, auch wenn sie noch so hell leuchtete, und der Annahme derselben, auch wenn sie noch so lebendig überzeugte, im Wege steht. Ein alter Weiser hat es empfunden, und es liegt in dem vielbedeutenden Ausdruck versteckt:   s a p e r e    a u d e.

Erkühne dich, weise zu sein. Energie des Muts gehört dazu, die Hindernisse zu bekämpfen, welche sowohl die Trägheit der Natur als die Feigheit des Herzens der Belehrung entgegen setzen.“

[Friedrich Schiller 1795 im 8. Brief in „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“, Frankfurt/M. 2009, S.33]

 

Bücher können Freunde sein…

„Wer daran denkt, wie gelegen ihm selbst zuweilen dies oder jenes Buch, ja auch nur dieser oder jener Gedanke eines Buches kam, welche Freude es ihm verschaffte, einen andern, von ihm entfernten und doch in seiner Tätigkeit ihm nahen Geist auf seiner eignen oder einer bessern Spur zu finden, wie uns oft ein solcher Gedanke jahrelang beschäftigt und weiterführet: der wird einem Schriftsteller, der zu ihm spricht und ihm sein Inneres mitteilet, nicht als einen Lohndiener, sondern als einen Freund betrachten, der auch mit unvollendeten Gedanken zutraulich hervortritt, damit der erfahrnere Leser mit ihm denke und sein Unvollkommenes der Vollkommenheit näher führe.“

[Johann Gottfried Herder, in der Vorrede zu „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“, 1784 via www.zeno.org]