Kategorie-Archiv: 19. Jahrhundert

regelmäßig, fürsorglich und mild

„I seek to trace the novel features under which despotism may appear in the world. The first thing that strikes the observation is an innumerable multitude of men, all equal and alike, incessantly endeavoring to procure the petty and paltry pleasures with which they glut their lives. Each of them, living apart, is as a stranger to the fate of all the rest; his children and his private friends constitute to him the whole of mankind. As for the rest of his fellow citizens, he is close to them, but he does not see them; he touches them, but he does not feel them; he exists only in himself and for himself alone; and if his kindred still remain to him, he may be said at any rate to have lost his country.

Above this race of men stands an immense and tutelary power, which takes upon itself alone to secure their gratifications and to watch over their fate. That power is absolute, minute, regular, provident, and mild. It would be like the authority of a parent if, like that authority, its object was to prepare men for manhood; but it seeks, on the contrary, to keep them in perpetual childhood: it is well content that the people should rejoice, provided they think of nothing but rejoicing. For their happiness such a government willingly labors, but it chooses to be the sole agent and the only arbiter of that happiness; it provides for their security, foresees and supplies their necessities, facilitates their pleasures, manages their principal concerns, directs their industry, regulates the descent of property, and subdivides their inheritances: what remains, but to spare them all the care of thinking and all the trouble of living?“

Alexis de Tocqueville, Democracy in America (Volume II, Section 4), 1840

online verfügbar via http://xroads.virginia.edu/~HYPER/DETOC/toc_indx.html

Es ist falsch, wenn einer sagt: Ich denke

„Ich will ein Poet sein, und ich arbeite an mir, um aus mir einen Seher zu machen. Sie werden das natürlich nicht begreifen, und wie sollte ich es Ihnen auch erklären. Es geht darum, durch ein Entgrenzen aller Sinne am Ende im Unbekannten anzukommen. Die Leiden sind gewaltig, aber man muß stark sein, als Poet geboren, und ich habe mich als Poet erkannt. Das ist durchaus nicht meine Schuld. Es ist falsch, wenn einer sagt: Ich denke. Man sollte sagen: Es denkt mich. (Entschuldigen Sie das Wortspiel.)
Ich ist ein anderer. Schlimm genug für das Holz, das als Geige erwacht, und Spott allen, die sich selber nicht kennen und doch über etwas klügeln, wovon sie nicht das geringste wissen.“

Arthur Rimbaud in einem Brief an Herrn Izambard im Mai 1871

[übersetzt von Dieter Tauchmann, zitiert nach Arthur Rimbaud, Gedichte, französisch und deutsch, Leipzig, 1989, S. 152/153]

damals? das Recht der öffentlichen Meinung

„Kurz, ein Fleck, wie es deren sonst so viele in Deutschland gab, mit all den Mängeln und Tugenden, all der Originalität und Beschränktheit, wie sie nur in solchen Zuständen gedeihen. Unter höchst einfachen und häufig unzulänglichen Gesetzen waren die Begriffe der Einwohner von Recht und Unrecht einigermaßen in Verwirrung geraten, oder vielmehr, es hatte sich neben dem gesetzlichen ein zweites Recht gebildet, ein Recht der öffentlichen Meinung, der Gewohnheit und der durch Vernachlässigung entstandenen Verjährung. Die Gutsbesitzer, denen die niedere Gerichtsbarkeit zustand, straften und belohnten nach ihrer in den meisten Fällen redlichen Einsicht; der Untergebene tat, was ihm ausführbar und mit einem etwas weiten Gewissen verträglich erschien, und nur dem Verlierenden fiel es zuweilen ein, in alten staubichten Urkunden nachzuschlagen.

Es ist schwer, jene Zeit unparteiisch ins Auge zu fassen; sie ist seit ihrem Verschwinden entweder hochmütig getadelt oder albern gelobt worden, da den, der sie erlebte, zuviel teure Erinnerungen blenden und der Spätgeborene sie nicht begreift.“

[Annette von Droste-Hülshoff, Die Judenbuche in „Werke in einem Band, Die Bibliothek deutscher Klassiker Band 35“, Wien, 1970, S. 882/883]

 

Vernunft – Herz – Wille

Aber was ist denn das Wesen des Menschen, dessen er sich bewußt ist, oder was macht die Gattung, die eigentliche Menschheit im Menschen aus? Die Vernunft, der Wille, das Herz. Zu einem vollkommenen Menschen gehört die Kraft des Denkens, die Kraft des Willens, die Kraft des Herzens. Die Kraft des Denkens ist das Licht der Erkenntnis, die Kraft des Willens die Energie des Charakters, die Kraft des Herzens die Liebe. Vernunft, Liebe, Willenskraft sind Vollkommenheiten, sind die höchsten Kräfte, sind das absolute Wesen des Menschen als Menschen und der Zweck seines Daseins. Der Mensch ist, um zu erkennen, um zu lieben, um zu wollen. Aber was ist der Zweck der Vernunft? die Vernunft. Der Liebe? die Liebe. Des Willens? die Willensfreiheit. Wir erkennen, um zu erkennen, lieben, um zu lieben, wollen, um zu wollen, d.h. frei zu sein. Wahres Wesen ist denkendes, liebendes, wollendes Wesen. Wahr, vollkommen, göttlich ist nur, was um sein selbst willen ist. Aber so ist die Liebe, so die Vernunft, so der Wille. Die göttliche Dreieinigkeit im Menschen über dem individuellen Menschen ist die Einheit von Vernunft, Liebe, Wille. Vernunft (Einbildungskraft, Phantasie, Vorstellung, Meinung), Wille, Liebe oder Herz sind keine Kräfte, welche der Mensch hat – denn er ist nichts ohne sie, er ist, was er ist, nur durch sie –, sie sind als die sein Wesen, welches er weder hat noch macht, begründenden Elemente, die ihn beseelenden, bestimmenden, beherrschenden Mächtegöttliche, absolute Mächte, denen er keinen Widerstand entgegensetzen kann.

[Ludwig Feuerbach in „Das Wesen des Christentums“, Band 2, Berlin, 1956 via zeno.org]

Die Stachelschwein-Parabel

„Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich an einem kalten Wintertage recht nah zusammen, um sich durch die gegenseitige Wärme vor dem Erfrieren zu schützen. Jedoch bald empfanden sie die gegenseitigen Stacheln, welches sie dann wieder von einander entfernte. Wann nun das Bedürfnis der Erwärmung sie wieder näher zusammenbrachte, wiederholte sich jenes zweite Übel, so daß sie zwischen beiden Leiden hin und her geworfen wurden, bis sie eine mäßige Entfernung voneinander herausgefunden hatten, in der sie es am besten aushalten konnten.

So treibt das Bedürfnis der Gesellschaft, aus der Leere und Monotonie des eigenen Innern entsprungen, die Menschen zueinander; aber ihre vielen widerwärtigen Eigenschaften und unerträglichen Fehler stoßen sie wieder voneinander ab. Die mittlere Entfernung, die sie endlich herausfinden, und bei welcher ein Beisammensein bestehen kann, ist die Höflichkeit und feine Sitte. Dem, der sich nicht in dieser Entfernung hält, ruft man in England zu: keep your distance! – Vermöge derselben wird zwar das Bedürfnis gegenseitiger Erwärmung nur unvollkommen befriedigt, dafür aber der Stich der Stacheln nicht empfunden.

Wer jedoch viel eigene, innere Wärme hat, bleibt lieber aus der Gesellschaft weg, um keine Beschwerde zu geben, noch zu empfangen.“

[Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften, Berlin, 1851, S. 524/525]

die Kunst ist eine Tochter der Freiheit

„Ich möchte nicht gern in einem andern Jahrhundert leben und für ein andres gearbeitet haben. Man ist eben so gut Zeitbürger, als man Staatsbürger ist; und wenn es unschicklich, ja unerlaubt gefunden wird, sich von den Sitten und Gewohnheiten des Zirkels, in dem man lebt, auszuschließen, warum sollte es weniger Pflicht sein, in der Wahl seines Wirkens dem Bedürfniß und dem Geschmack des Jahrhunderts eine Stimme einzuräumen?

Diese Stimme scheint aber keineswegs zum Vortheil der Kunst auszufallen, derjenigen wenigstens nicht, auf welche allein meine Untersuchungen gerichtet sein werden. Der Lauf der Begebenheiten hat dem Genius der Zeit eine Richtung gegeben, die ihn je mehr und mehr von der Kunst des Ideals zu entfernen droht. Diese muß die Wirklichkeit verlassen und sich mit anständiger Kühnheit über das Bedürfniß erheben; denn die Kunst ist eine Tochter der Freiheit, und von der Nothwendigkeit der Geister, nicht von der Nothdurft der Materie will sie ihre Vorschrift empfangen. Jetzt aber herrscht das Bedürfniß und beugt die gesunkene Menschheit unter sein tyrannisches Joch. Der Nutzen ist das große Ideal der Zeit, dem alle Kräfte frohnen und alle Talente huldigen sollen. Auf dieser groben Waage hat das geistige Verdienst der Kunst kein Gewicht, und aller Aufmunterung beraubt, verschwindet sie von dem lärmenden Markt des Jahrhunderts.

[Johann Friedrich Schiller. „Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen“ in Schillers Sämmtliche Werke,4. Band, Stutgart, 1879, S. 560  – via gutenberg.spiegel.de]

muß: ein Verdammungswort

„Schon seit einigen Tagen nehme ich jeden Augenblick die Feder in die Hand, aber es war mir unmöglich, nur ein Wort zu schreiben. Ich studierte die Geschichte der Revolution. Ich fühlte mich wie zernichtet unter dem gräßlichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, Allen und Keinem verliehen. Der Einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich. Es fällt mir nicht mehr ein, vor den Paradegäulen und Eckstehern der Geschichte mich zu bücken. Ich gewöhnte mein Auge ans Blut. Aber ich bin kein Guillotinenmesser. Das muß ist eins von den Verdammungsworten, womit der Mensch getauft worden. Der Ausspruch: es muß ja Ärgernis kommen, aber wehe dem, durch den es kommt, – ist schauderhaft. Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt? Ich mag dem Gedanken nicht weiter nachgehen. Könnte ich aber dies kalte und gemarterte Herz an Deine Brust legen! …“

[Georg Büchner in einem Brief an seine Verlobte Wilhelmine Jaeglé, Januar 1834 via gutenberg.spiegel.de]