Kategorie-Archiv: 20. Jahrhundert

l’avenir

„Die Zukunft des Todes, seine Fremdheit, läßt dem Subjekt keinerlei Initiative. Es gibt einen Abgrund zwischen der Gegenwart und dem Tod, zwischen dem Ich und der Anderheit des Geheimnisses. Wir haben nicht darauf insistiert, daß der Tod die Existenz anhält, daß er Ende und Nichts ist, sondern darauf, daß das Ich angesichts des Todes absolut ohne Initiative ist. Den Tod besiegen ist kein Problem des ewigen Lebens. Den Tod besiegen heißt, mit der Andernheit des Ereignisses ein Verhältnis unterhalten, das doch noch persönlich sein soll.

Welches ist also dieses persönliche Verhältnis, das etwas anderes ist als das Vermögen des Subjekts über die Welt, und das dennoch die Persönlichkeit bewahrt? Wie kann man eine Definition des Subjekts geben, die in gewisser Weise auf seiner Passivität beruht. Gibt es im Menschen eine andere Herrschaft als diese Mannhaftigkeit, als dieses Können des Könnens, des Ergreifens des Möglichen? Wenn wir sie finden, dann wird in ihr, in diesem Verhältnis, die Zeit ihren eigentlichen Ort haben. Ich habe das letzte mal gesagt, daß dieses Verhältnis das Verhältnis zum anderen ist.“

[Emmanuel Lévinas, „Die Zeit und der Andere“, Hamburg, 1989 S. 51/52 – Orginal „Le Temps et l’Autre“, 1979]

»Gegenwart der Vergangenheit«

„Dieser Hang zur Geschichtsliteratur ist als das mehr oder weniger eindeutige Zeichen der großen Besonderheit des 20. Jahrhunderts zu erkennen: Der Mensch versteht sich nicht mehr als ein freies, autonomes Wesen, unabhängig von der Welt, die er beeinflußt, ohne sie zu determinieren. Er wird sich seiner selbst innerhalb der Geschichte bewußt, er fühlt sich eng verbunden mit der Verkettung der Zeiten und kann sich nicht mehr losgelöst von der Kontinuität früherer Zeitalter begreifen. Er ist neugierig auf die Geschichte wie auf eine Forsetzung seiner selbst, eines Teiles seines Wesens. Er spürt mehr oder weniger deutlich, daß sie ihm nicht gleichgültig sein kann. Nie zuvor im Ablauf der Zeiten gab es in der Menschheit ein entsprechendes Gefühl. Jede Generation, oder jede Folge von Generationen hatte es im Gegenteil eilig, die Besonderheiten der vorangegangenen Zeitalter zu vergessen.
Heute aber bezieht sich jede unserer Überlegungen, unserer Entscheidungen mehr oder weniger bewußt auf die Geschichte. Kein Gewohnheitsmerkmal unterstreicht diese Tatsache klarer und einfacher als die Vorliebe für alte Möbel, eine Vorliebe, die sich parallel zur Verbreitung der populärwissenschaftlichen Geschichtsbücher entwickelt hat. In welcher Epoche, außer vielleicht im eklektizistischen Rom Hadrians, hat man denn gemeinhin Antiquitäten gesammelt, um in täglicher Vertrautheit damit zu leben? Trotz der Anstrengungen der modernen Innenarchitekten gelingt es den neuen Stilrichtungen nicht, aus den häuslichen Einrichtungen das Wohnhimmer im Louis-XVI-Stil und das Directoire-Eßzimmer zu verdrängen. Es handelt sich nicht um eine vroübergehende Mode, sondern um eine tiefgreifende Veränderung des Geschmacks: die Vergangenheit ist an die Gegenwart herangerückt, sie überdauert im alltäglichen Dekor des Lebens.“

[Philippe Ariès, Zeit und Geschichte, Frankfurt/Main, 1988, S. 27/28]

Leiden und Sein

„Es gibt im Leiden eine Abwesenheit jeder Zuflucht. Sie ist der Sachverhalt, direkt dem Sein ausgesetzt zu sein. Sie ist gebildet aus der Unmöglichkeit zu entfliehen und auszuweichen. Die ganze Schärfe des Leidens liegt in dieser Unmöglichkeit des Ausweichens. Sie ist die Tatsache, in das Leben und in das Sein hinein in die Enge getrieben zu sein. In diesem Sinne ist das Leiden die Unmöglichkeit des Nichts.

Doch zur gleichen Zeit wie den Appell an ein unmögliches Nichts gibt es im Leiden die Nähe des Todes. Es gibt nicht nur das Gefühl und das Wissen, daß das Leiden mit dem Tode enden kann. Der Schmerz in sich selbst bringt so etwas wie eine äußerste Steigerung mit sich, wie wenn etwas noch Zerreißenderes als das Leiden vor sich gehen würde, wie wenn es trotz des Fehlens jeglicher Rückzugsdimension, welches das Leiden ausmacht, noch ein Terrain gäbe, das frei ist für ein Ereignis, wie wenn man sich noch um etwas beunruhigen müßte, wie wenn wir am Vorabend eines Ereignisses stünden, das jenseits dessen liegt, was sich im Leiden bis zum Ende enthüllt hat. Die Struktur des Schmerzes, die gerade darin besteht, an den Schmerz gefesselt zu sein, verlängert sich noch, aber bis zu einem Unbekannten, das in Ausdrücke des Lichts zu übersetzen unmöglich ist, das heißt, das widerspenstig ist gegen die Intimität des Sich mit dem Ich, zu der alle unsere Erfahrungen zurück kehren.“

[Emmanuel Lévinas, Die Zeit und der Andere, Hamburg, 1995, S. 42/43]

Realität der Massenmedien

„Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien. Das gilt nicht nur für unsere Kenntnis der Gesellschaft und der Geschichte,  sondern auch für unsere Kenntnis der Natur. Was wir über die Stratosphäre wissen, gleicht dem, was Platon über Atlantis weiß: Man hat davon gehört. Oder wie Horatio es ausdrückt: So I have heard, and do in part believe it. Andererseits wissen wir so viel über die Massenmedien, daß wir diesen Quellen nicht trauen können. Wir wehren uns mit einem Manipulationsverdacht, der aber nicht zu nennenswerten Konsequenzen führt, da das den Massenmedien entnommene Wissen sich wie von selbst zu einem selbst verstärkenden Gefüge zusammenschließt. Man wird alles Wissen mit dem Vorzeichen des Bezweifelbaren versehen – und trotzdem darauf aufbauen, daran anschließen müssen.“
[Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, Opladen, 1996, S.9/10]

Politik: eine selbstgeschaffene Wirklichkeit

„Schon jetzt hat die Politik es ständig mit sebstgeschaffenen Wirklichkeiten zu tu. Die Bedürfnisse, die Unerfreulichkeiten, die fast unlösbaren Probleme, denen sie sich gegenüber gestellt sieht, sind zum Teil ihr eigenes Werk. Man denke nur an das Thema Bürokratie. Daraus muß, über kurz oder lang, ein gebrochenes Verhältnis zu den eigenen Zielen folgen.

Die Politik hilft sich in dieser Situation mit relativer Kurzfristigkeit der Kalküle, der Zeithorizonte, der Zielsetzungen. Allgemein verkürzt sich in hochkomplexen Gesellschaften vermutlich der für das Handeln relevante Zeithorizont, weil die Verhältnisse für längerfristige Planung zu komplex sind. Der Politik ist außerdem durch den kurzfristigen Rhythmus der Wahlen eine eigene Zeitstruktur auferlegt. Bei kurzen Zeithorizonten können zahlreiche Interdependenzen ignoriert werden. Sie treten nicht in Erscheinung. Im Blick auf die Vergangenheit kann man vernachlässigen, daß man die Probleme mit genau den Prinzipien erzeugt hat, denen man weiterhin zu folgen gedenkt. Und man kann in Bezug auf die Zukunft hoffen, daß die weitläufigen und unübersehbaren Folgen der Jetztzeitplanung im Rahmen des Kontrollierbaren bleiben werden. Kurze Zeithorizonte entlasten das Handeln, und dieser Vorteil ist nicht gering zu veranschlagen.“

[Niklas Luhmann, Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, München, 1981, S.10 und 11]

 

gegen fruchtlosen Fatalismus

„Die Sonne geht auf? Und trotzdem wird sie untergehen. Die Nacht kündigt Verzweiflung an? Trotzdem wird auch sie vorübergehen und nie mehr wiederkommen. Wichtig ist, nicht aufzugeben, sich keinem fruchtlosen Fatalismus zu überlassen. König Salomo, der große Pessimist, hat es treffend gesagt: ‚Die Tage kommen, die Tage gehen. Eine Generation geht, eine andere kommt und wird wieder durch die nächste abgelöst. Nur die Erde besteht weiter, die Sonne geht auf, die Sonne geht unter…, was war, wird sein…‘ Soll man folglich die Zeit anhalten? Und den Lauf der Sonne? Manchmal muß man es versuchen. Selbst wenn es vergeblich ist? Auch dann. Manchmal ist es unsere Aufgabe, etwas zu versuchen, gerade weil es vergeblich ist. Weil am Ende des Weges der Tod auf uns wartet, müssen wir aus vollen Zügen leben. Weil ein Geschehen uns sinnlos erscheint, müssen wir ihm einen Sinn geben. Weil wir unsere Zukunft nicht in den Händen halten, müssen wir sie schaffen.“

Elie Wiesel, „Alle Flüsse fließen ins Meer. Autobiographie“, Hamburg, 1995, S. 30/31

zeitgemäßer Geiz

„Zeitgemäß ist der Geizige, dem nichts für sich und alles für die andern zu teuer ist. Er denkt in Äquivalenten, und sein ganzes Privatleben steht unter dem Gesetz, weniger zu geben als man zurückbekommt, aber doch stets genug, daß man etwas zurückbekomme. Jeder Freundlichkeit, die sie gewähren, ist die Überlegung: ‚ist das auch nötig?‘ , ‚muß man das tun?‘ anzumerken. Ihr sicherstes Kennzeichen ist die Eile, für empfangene Aufmersamkeiten sich zu ‚revanchieren‘, um nur ja in der Verkettung der Tauschakte, bei denen man auf seine Kosten kommt, keine Lücke entstehen lassen. Weil bei ihnen alles rational, mit rechten Dingen zugeht, sind sie, anders als Harpagon und Scrooge, nicht zu überführen und nicht zu bekehren. Ihre Liebenswürdigkeit ist ein Maß ihrer Unerbittlichkeit.“

[Theo­dor W. Ador­no in „Mi­ni­ma Mo­ra­lia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben“ – Text aus dem 15. Apho­ris­mus, Frankfurt a. Main, 2001, S.49]